Die Suende der Engel
los mit Ihrem Bruder? Er ist geisteskrank, oder? Er hat mir erzählt, er war tablettensüchtig und macht gerade einen Entzug. Das hat mich zunächst beruhigt. Aber das ist es nicht. Das kann nicht der Grund für alles sein!«
»Er war nie tablettensüchtig«, sagte Maximilian. »Vermutlich kam er auf diese Erklärung, weil er weiß, daß ich von den Dingern abhänge. Mich haben sie damit so vollgepumpt, daß ich es ohne kaum aushalte. Wenn meine Hände nicht gefesselt wären, würden sie wie verrückt zittern.«
»Warum hat er nie etwas von einem Zwillingsbruder erzählt?«
»Weil die Tatsache, daß es zwei von uns gibt, das bestgehütete Geheimnis der Familie ist. Mein Vater hat dafür gesorgt, daß niemand davon sprechen durfte.«
»Warum nicht?« Sie merkte, daß eine neue Angst in ihr hochkroch. »Und warum hat man Sie mit Tabletten vollgepumpt?«
»Das ist eine lange Geschichte. Sie werden alles erfahren, das verspreche ich Ihnen. Aber zunächst müssen wir dringend überlegen, wie wir hier wegkommen. Glauben Sie, Sie können sich so weit bewegen, daß Sie zu mir herüberkriechen und versuchen, meine Fesseln zu lösen?«
»Und wenn er kommt?«
»Wir haben nichts zu verlieren. Bitte versuchen Sie es!«
Sie kroch auf ihn zu. Ein paarmal glaubte sie, Schritte zu hören, und hielt entsetzt inne, aber Maximilian drängte: »Da ist nichts. Los, schneller!«
Sie erreichte ihn, und auch aus nächster Nähe sah er Mario so perfekt ähnlich, daß es sie erneut fassungslos machte. Niemals hätte sie die beiden auseinanderhalten können. Nur die Augen... die waren anders, die waren wie die Augen Marios, bevor er sich so beängstigend zu verändern begann. Sie waren nicht starr und leer. Sie waren lebendig und warm, erfüllt von Angst.
»Schnell!« drängte er noch einmal.
»Es wird nicht so rasch gehen«, sagte Tina. »O Gott, hat er viele Knoten gemacht! Halten Sie still!«
Sie fingerte an den Knoten herum, brach sich sofort zwei Fingernägel ab, fluchte leise, machte weiter. Maximilian vernahm ihren keuchenden Atem neben seinem Ohr.
»Er muß durchgedreht sein, als Sie anfingen, sich ihm als Frau zu zeigen«, sagte er, »mir war klar, daß das passieren würde. Ich ahnte, daß er mit einem Mädchen verreist ist, und habe mich sofort auf den Weg gemacht.«
»Warum haben Sie nicht die Polizei verständigt?«
»Er ist mein Bruder.«
Der erste Knoten gab nach. Sie konnte ihn lösen. »Einen hab’ ich«, sagte sie.
»Okay. Schnell den nächsten!«
»Was hat er am Anfang in mir gesehen - wenn nicht eine Frau?«
»Einen Engel. Ein überirdisches Wesen. Das Geschöpf, nach dem er immer gesucht hat.«
»Du bist das Bild, das ich in mir barg...!«
»Hat er das gesagt?«
»Ja. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Das
heißt... ich dachte mir, daß er etwas in mir gesehen hat, etwas, das ich dann nicht erfüllt habe. Aber... es war alles so verworren... und dann erzählte er das mit den Tabletten, und ich dachte, das sei die Erklärung für alles.«
»Es ist ein Zitat aus der >Walküre<. Sicher hat er Wagner gehört, ja?«
»Häufig. Vor allem nachts.«
Er seufzte. »Warum sind Sie da nicht weggelaufen? Oder kam Ihnen das nicht eigenartig vor? Ein junger Mann, der nächtelang Wagner-Musik hört?« Der nächste Knoten löste sich. »Ich wollte ja weg«, sagte Tina, »ich hatte Angst. Aber ich war nicht sicher, ob nicht ich... wissen Sie, ich habe so wenig Erfahrung mit Männern. Eigentlich gar keine. Ich habe mit überhaupt nichts Erfahrung. Und deshalb dachte ich immer, vielleicht reagiere ich übertrieben. Vielleicht bin ich unnormal. Vielleicht steigere ich mich hinein in etwas... Au!«
»Was ist?«
»Der Strick ist so rauh. Mein Finger blutet!«
»Machen Sie weiter!«
Sie biß die Zähne zusammen, wischte das Blut an ihrem Rock ab, zerrte weiter an den Knoten herum.
»Er ist versessen auf die Musik von Wagner«, erklärte Maximilian, »denn es findet sich darin häufig das Motiv der reinen Liebe jenseits der Geschlechtlichkeit. Einer Liebe, die über alle Verderbtheit triumphiert und Erlösung und Befreiung bringt. Danach hat er gesucht.«
»Er ist geisteskrank!«
»Er ist ein verzweifelter Mensch. Ich weiß, was er fühlt, weil ich alle seine Regungen kenne. Er sucht etwas, das er nicht finden kann. Er wird sein Leben lang leiden.«
»Er hätte in eine Anstalt gehört!«
Maximilian erwiderte nichts. Und auf einmal erkannte Tina die Wahrheit. Die Erkenntnis bemächtigte sich ihrer
von einem
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