Die Suende der Engel
Augen.
»Wir werden sehen, was kommt«, erwiderte er nur.
»Wir werden verhungern«, sagte Tina, »wir werden sterben.« Die Worte klangen schrecklich und unwirklich, und doch wußte Tina in dem Moment, da sie sie aussprach, daß sie den Kern trafen. Sie würden sterben. Und das war es auch, worauf Mario wartete.
»O Gott!« flüsterte sie.
Ein Anflug von Zärtlichkeit trat in Marios Augen und machte ihn für einen Moment etwas menschlicher. »Ich würde nie zulassen, daß es schlimm wird für dich, Tina. Du sollst keine Schmerzen haben. Du wirst nicht leiden.«
»Ich leide jetzt schon. Ich habe jetzt Schmerzen. Und ich will nicht sterben!«
Er sah sie sanft, etwas mitleidig an. »Es ist das beste für dich, das mußt du mir glauben. Es gibt keinen anderen Weg, dich zu retten. Ich habe wirklich nachgedacht, aber es gibt keinen.«
Er ist geisteskrank, dachte Tina entsetzt, wirklich geisteskrank. »Warum?« fragte sie leise. »Wenn ich nur verstehen könnte, warum.«
Aber Marios Blick wandelte sich wieder in leeres Starren. Noch eine halbe Minute, und er würde erneut in einen Zustand der Unerreichbarkeit abgleiten.
»Mario«, sagte Tina deshalb rasch, »ich brauche mehr Wasser. Ich muß mir kalte Umschläge um den Knöchel machen, ich werde sonst verrückt vor Schmerzen. Kannst du mir Wasser holen?«
Mario zuckte zusammen. »Was?«
»Ob du mir Wasser holen kannst. Ich brauche Wasser!«
Beim letzten Mal hatte es eine knappe Viertelstunde gedauert, bis er wiedergekommen war. Tina war entschlossen, alles auf eine Karte zu setzen. Sie hatte nichts mehr zu verlieren, denn er würde sie töten, davon war sie inzwischen fest überzeugt. In seinen Augen hatte sie nackten Wahnsinn gelesen; mit Bitten und Betteln würde
sie bei ihm ebensowenig erreichen wie mit Appellen an seine Vernunft. Es hatte keinen Sinn, ihn vor dem Gefängnis oder der Irrenanstalt zu warnen, denn mit Sicherheit fürchtete er keines von beiden. Abgesehen davon, hatte er höchstwahrscheinlich im Sinn, mit ihr gemeinsam zu sterben.
Tina hielt es für beinahe ausgeschlossen, daß ihr eine Flucht gelingen könnte, aber es ging um ihr Leben, und das war jeden Versuch wert. Sie würde mit dem verletzten Bein nicht weit kommen, ehe er ihre Flucht bemerkte, und er würde sofort alles nach ihr durchkämmen. Sie hatte nur eine winzige Chance: die Dunkelheit. Die gewährte ihr ein wenig Schutz, die Möglichkeit, sich zunächst zu verbergen und sich dann langsam an den Abstieg zu machen. Das Risiko bestand darin, daß er sie wahrscheinlich sofort erwischte und in seinem Zorn erwürgte oder erschlug. Doch dann wäre wenigstens alles schnell vorbei, und sie mußte nicht noch Stunden oder Tage in dieser Hütte sitzen und auf das Ende warten.
»Mario«, wiederholte sie, »der Eimer ist fast leer. Wir brauchen neues Wasser!«
Er stand tatsächlich auf, nahm den Eimer und verschwand in der Nacht.
Zentimeter um Zentimeter kroch Tina durch den Raum. Sie biß die Zähne zusammen, um nicht zu stöhnen. Sie bewegte sich auf allen vieren, wobei sie sich bemühte, das verletzte Bein gestreckt zu halten und wenig zu bewegen. Dennoch hatte sie zweimal das Gefühl, vor Schmerzen jeden Moment ohnmächtig zu werden. Sie mußte durchhalten, mußte wenigstens die Tür erreichen, mußte ins Freie gelangen, in die schützende Dunkelheit... Noch ein Meter, noch ein halber...
Mach jetzt nicht schlapp, befahl sie sich, nicht an die Schmerzen denken, nicht an...
Die Tür wurde aufgerissen, und vor ihr stand Mario.
Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen starrte sie zu ihm hinauf. Sie kauerte auf dem Boden, und er erhob sich riesenhaft über ihr, drohend, dunkel, hinter sich die Nacht, die ihr nun nichts mehr nützte. Sie war ihm ausgeliefert, sie war allein. Sie würde sterben.
»Ich wollte nicht weglaufen«, sagte sie, »wirklich nicht. Ich... ich mußte mal raus, verstehst du, ich kann ja nicht hier in der Hütte... Gott, sieh mich doch nicht so an...«
Er kauerte sich vor sie hin, umfaßte mit beiden Händen ihre Oberarme. Er sah sie eindringlich an. »Keine Angst. Ich tue Ihnen nichts. Bitte hören Sie auf zu zittern!«
»Ich... ich...«, versuchte sie zu sagen, aber sie brachte keine weiteren Worte heraus.
Seine Hände lagen noch immer auf ihren Armen, warme, kräftige Hände. »Wir müssen weg«, sagte er. Er stand auf und versuchte, sie in die Höhe zu ziehen, zuckte jedoch bei ihrem Aufschrei zusammen. Er sah sie betroffen an. »Was ist?«
Da sie wußte,
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