Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
Scheusal war, ihn ausgerechnet heute ohne ein einziges Abschiedswort gehen zu lassen. Die Hauptverhandlung gegen Fred Corvey stand bevor, und sie wußte schließlich, daß ihm der Gedanke daran zu schaffen machte.
    Sie frühstückte und zog sich an, und dann beschloß sie, ins Gericht zu gehen und zu sehen, ob sie Andrew vielleicht zu einem gemeinsamen Mittagessen würde überreden können. Die Verhandlung würde sicher nicht ohne Unterbrechung ablaufen.
    Gegen zehn Uhr verließ sie die Wohnung, fuhr mit der U-Bahn bis zur St. Paul’s Cathedral und ging von dort zu Fuß in die Newgate Street, in der sich das Old Bailey, der Central Criminal Court, befand. Der Tag war warm und sonnig, und Janet hatte sich - bedingt durch die bevorstehende Versöhnung mit Andrew - sehr beschwingt gefühlt. Aber ihre Schritte wurden zögernder, je näher sie dem Gerichtsgebäude kam. Auf einmal hatte sie Angst.
    Sie würde Fred Corvey sehen. Einen Massenmörder. Einen Mann, der Frauen so haßte, daß er sie auf grausame Art tötete. Was war wann bei ihm schiefgelaufen? Wo, an welcher Stelle, lief in seinem Gehirn etwas falsch? Janet hatte das Bild unzähliger kleiner Zahnräder vor Augen, die sich gleichmäßig bewegten und präzise ineinandergriffen,
damit einen großen Apparat betrieben und am Funktionieren hielten. Aber ein einziges der kleinen Zahnräder war aus dem Rhythmus gekommen, und damit brachte es alles durcheinander, Chaos breitete sich in der ganzen Maschine aus. Was hatte das Rad gestört? Ein falsches Wort, ein falscher Blick? Eine jahrelange schlimme Behandlung? Würde man es jemals herausfinden, oder würde es irgendwann eine Menge Gutachten über Fred Corvey geben, von denen jedes einzelne eine andere Theorie, den Fall betreffend, verfocht?
    Janet war beinahe entschlossen, wieder umzukehren, aber da hatte sie schon das Gerichtsgebäude erreicht, einen eindrucksvollen Bau, gekrönt von einer hohen Kuppel, auf der Justitia stand und golden im Sonnenlicht leuchtete. Und plötzlich kam es ihr vor, als streckten sich Hände nach ihr aus und zogen sie vorwärts. Sie ging durch das Portal, und das erste, was sie sah, war eine Meute von Journalisten, die, mit Kameras und Mikrophonen bewaffnet, sich über Fred Corvey unterhielten.
    »... wirklich ein dickes Ding...«, »... wird verdammt kritisch jetzt...«, »... werden Gutachter brauchen...«
    Sie wandte sich an einen jungen Mann, der auf einer Treppenstufe saß und eine Banane verzehrte. Neben ihm lag ein Photoapparat.
    »Entschuldigen Sie... die Verhandlung gegen Fred Corvey... wo findet die statt?«
    Der Mann steckte den letzten Bissen seiner Banane in den Mund und antwortete kauend: »Treppe hoch, dritte Tür links. Aber die haben vor einer halben Stunde unterbrochen.«
    »Wie ist denn der Stand der Dinge?«
    »Corvey hat auf die Frage, ob er schuldig oder nicht schuldig sei, mit einem klaren >Nicht schuldig< geantwortet. Damit hat er alle aus dem Konzept geschmissen.«

    »Das gibt’s doch nicht! Damit kommt er doch nicht durch!«
    Der junge Mann zuckte mit den Schultern. »Kommt drauf an. Die Anklagevertretung hat jetzt jedenfalls einige Probleme.«
    »Aber er hat gestanden. Er war bei vollem Bewußtsein.«
    »Lady, ich sag’ ja auch nicht, er steht glänzend da. Aber...« Er ließ den Satz unvollendet und verdeutlichte damit, wie die Dinge im Fall Corvey lagen: offen. Nicht abzusehen.
    Janet setzte sich neben ihn auf die Treppe. Der junge Mann zog eine weitere Banane aus der Tasche. »Möchten Sie die Hälfte?«
    »Danke. Ich hab’ gerade gefrühstückt.«
    Andächtig schälte er das Obst. »Ich bin übrigens Paul Fellowes, vom Nottingham Daily. Ein Provinzblatt, aber vom Corvey-Fall will man überall alles wissen. Für wen schreiben Sie?«
    »Gar nicht. Ich bin eine... Bekannte von Inspector Davies.« Janet beschloß, der Einfachheit halber ihren deutschen Namen unter den Tisch fallenzulassen. »Ich heiße Janet«, sagte sie nur.
    Paul starrte sie mit neu erwachtem Interesse an. »Hey - eine Bekannte von Davies? Dem scharfen Davies?«
    Janet runzelte die Stirn. »Was meinen Sie mit >scharf    »Der ist nicht zimperlich mit den Leuten, die er unbedingt hinter Gitter bringen will. Soll einen extremen Jagdtrieb haben, deshalb hat er vor Jahren vom Juristen zum Polizisten umgesattelt. Er ist zerfressen vom Ehrgeiz. Wenn er jemanden laufen lassen muß, ist das eine persönliche Tragödie für ihn.« Paul schloß einen Moment lang genießerisch die Augen, während er

Weitere Kostenlose Bücher