Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
für uns zu haben.«
    Michael strich sich mit einer müden Bewegung durch die Haare und tat sich noch einen Schluck von dem Fusel an, den Dana als Wein offeriert hatte. An dem, was das junge Mädchen sagte, war zweifellos einiges dran. Zumindest von sich selber wußte er, daß er Mario ganz sicher nicht unvoreingenommen und objektiv gegenübergetreten war. Was hatte der junge Mann eigentlich getan, was dieses Mißtrauen gerechtfertigt hätte?
    »Ich habe schon überlegt«, sagte Dana, »ob ich den beiden nachreise...«
    »Oh, ich weiß nicht, ob...«
    »Nicht, daß ich in Erscheinung treten würde. Ich würde einfach nach Südfrankreich trampen und irgendwo ein Zimmer nehmen - und einfach in Tinas Nähe sein.«
    »Um Gottes willen, hat Ihnen nie jemand gesagt, wie gefährlich es ist, zu trampen?« Michael wurde es himmelangst bei der Vorstellung, das Mädchen könnte sich mitsamt seinem Stretchrock und den Stöckelschuhen an den Straßenrand stellen und den Daumen in den Wind strekken.
    »Das dürfen Sie nicht tun«, warnte er eindringlich.
»Schauen Sie sich einmal die Verbrechensstatistiken an! Jedes Jahr verschwinden Mädchen spurlos bei diesem Abenteuer, werden vergewaltigt oder ermordet oder beides. Ich möchte wirklich nicht, daß Ihnen so etwas zustößt.«
    Dana, die seit ihrem zwölften Lebensjahr ständig trampte und von ihrer Mutter nie auch nur eine einzige Warnung deswegen vernommen hatte, hielt Michaels Reaktion für reichlich übertrieben, fand es aber besser, keine Diskussion anzustrengen.
    »Okay«, sagte sie begütigend, »ich tu es nicht. Es war nur so ein Einfall - und wahrscheinlich kein guter.«
    Michael griff nach der Weinflasche, schenkte ihr und sich noch etwas nach. Er begann sich an das Zeug zu gewöhnen; zudem war es ihm inzwischen gleich, ob er Kopfweh bekam oder nicht. Er würde sich ohnehin nicht mehr wohl fühlen, ehe nicht Tina wohlbehalten zu ihm zurückgekehrt war.

DIENSTAG, 6. JUNI 1995
    Tina erwachte, als das Auto anhielt. Sie hatte stundenlang geschlafen, wirr geträumt und nichts mehr von der Reise mitbekommen; nicht die Fahrt durch das liebliche Rhônetal, nicht den kurvigen Weg südlich des Luberon entlang, nicht das halsbrecherische Auf und Ab durch den französischen Grand Canyon entlang dem Verdon. Sie schreckte hoch und wußte nicht sofort, wo sie sich befand.
    »Was ist los?« fragte sie verschlafen.
    »Wir sind da«, sagte Mario, »wir haben es geschafft!« Seine Munterkeit klang forciert. Er war völlig kaputt und am Ende seiner Kräfte. Für einen Moment wußte er kaum, wie es ihm gelingen sollte, ausreichend Energie aufzubringen, um auszusteigen und das Gepäck ins Haus zu schaffen, anstatt auf der Stelle hier über dem Lenkrad einzuschlafen.
    Tina richtete sich auf und stöhnte dabei leise. Ihr Körper fühlte sich steif an, ihre Muskeln waren verkrampft und schmerzten. Mit der Hand massierte sie ihren Nacken, bewegte die Schultern vorsichtig hin und her. Dann erwachten ihre Lebensgeister. Aufgeregt spähte sie hinaus. »Wir sind in Nizza?«
    »In der Nähe. Unser Haus liegt nicht direkt in Nizza, das habe ich dir ja gesagt.«
    Tina öffnete die Tür und stieg aus. Dunkle Nacht umfing sie. Erst als sie sich umdrehte, nahm sie zwei oder drei kleine Lichter in der Ferne wahr. Dafür roch sie den
intensiven Duft des Lavendel, vermischt mit wildem Thymian, und den des Salbei, den der leichte Wind aus den Bergen herantrug. Tief atmete sie die warme Luft der provençalischen Nacht. Über ihr wölbte sich ein klarer, sternenübersäter Himmel.
    »Wie schön es hier ist«, sagte sie.
    Mario quälte sich ebenfalls aus dem Auto und öffnete den Kofferraum. »Komm, hilf mir, die Sachen hineinzubringen!«
    Tinas Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, sie konnte ein kleines Haus erkennen, gebaut aus dem hellgrauen, unebenen Stein der Gegend, inmitten eines verwilderten Gartens stehend.
    »Ist es das?« fragte sie.
    »Ja. Warte, ich gehe voran und mache Licht.« Über einen Plattenweg, der von Rosmarinhecken und Zypressen gesäumt wurde, gelangten sie zur Haustür. Mario schloß auf und knipste das Licht im Flur an. Im Schein der Lampe kam Tina zum erstenmal auf die Idee, auf ihre Uhr zu sehen: Es war beinahe drei.
    Sie waren fast zwanzig Stunden unterwegs gewesen.
    Sie stand in dem kleinen Dachzimmer, das Mario ihr zum Schlafen zugewiesen hatte, packte ihren Koffer aus und fand, daß die Dinge irgendwie schiefliefen. Dana hätte sich die Haare gerauft. Sie hätte sich nicht

Weitere Kostenlose Bücher