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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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wie elektrisiert hoch. Jetzt nahm sie alles ganz genau wahr: die kleine, etwas dickliche Figur der Frau, das braune, ordentlich frisierte Haar, das geblümte Sommerkleid, das aus einem Kaufhaus zu stammen schien und dessen Rock stark zipfelte. Mrs. Corvey hatte Wasser in den Beinen und dicke Krampfadern, sie trug klobige Gesundheitssandalen und klammerte sich an einer riesigen Handtasche aus Plastik fest. Sie wirkte ausgesprochen redlich, sehr ehrlich, und schien sich in einer Art Schockzustand zu befinden. Während der vergangenen Wochen mußte ihre Welt zusammengebrochen sein.
    »Sie sieht aus wie eine freundliche, arbeitsame Putzfrau, die ihr Geld hart verdienen muß«, stellte Janet fest.
    »Sie putzt tatsächlich«, sagte Andrew, »damit hat sie ihren Sohn groß gezogen.«
    »Gibt es keinen Vater?«
    »Der ist seit einem Arbeitsunfall schwer behindert. Er sitzt seit zwanzig Jahren im Rollstuhl und bekommt eine minimale Rente.«
    Der junge Mann, der Mrs. Corvey begleitete und der, wie Janet erkannte, einen gutgeschnittenen Anzug aus feinem Tuch trug, sprach jetzt mit einem der Kellner. Den Tisch, auf den dieser wies, lehnte er mit einem Kopfschütteln ab. Ganz offensichtlich wollte er mit Mrs. Corvey diskret und unauffällig plaziert werden.

    »Kein Wunder«, murmelte Andrew, »nachdem es sicher nicht leicht war, die Presse abzuschütteln, will er es jetzt nicht riskieren, doch noch jemandem aufzufallen.«
    »Wer ist der Mann?«
    »Ein Mitarbeiter von einem der Anwälte Corveys. Offenbar damit betraut, sich um Mrs. Corvey zu kümmern.«
    »Ist es nicht gewagt, so nahe am Gericht mit ihr zu essen?«
    »Eher clever. Hier vermutet sie niemand.«
    Janet fixierte die Frau, die sie nun im Profil vor sich hatte. Mrs. Corvey fühlte sich überhaupt nicht wohl, starrte hilflos und unglücklich in die Speisekarte. Und dann, als könne sie die Augen spüren, die sich so brennend auf sie richteten, wandte sie plötzlich den Kopf. Sie sah Janet an, und Janet hielt ihrem Blick stand. Es war wie ein kurzes, stummes Gespräch. Mrs. Corvey las in Janets Miene Verständnis und Anteilnahme, Janet in der Mrs. Corveys Schmerz und Verwirrung. Dann schaute auch der junge Mann zu ihnen herüber, erkannte Andrew, zuckte kaum merklich zurück, grüßte dann mit einem kühlen Kopfnicken. Flüsternd klärte er seine Begleiterin über Andrews Identität auf; Janet konnte von seinen Lippen die Worte »Scotland Yard« ablesen. Sofort versteinerte Mrs. Corvey. Scotland Yard, das waren die Leute, die ihr das alles angetan hatten. Die in ihr Leben eingebrochen waren und es in eine Hölle verwandelt hatten, indem sie ihren Sohn, ihren geliebten Freddy, entsetzlicher, unvorstellbarer Verbrechen beschuldigten.
    Sie stand so hastig auf, daß beinahe ihr Stuhl umgefallen wäre, griff nach ihrer Handtasche. Der junge Mann versuchte sie zu beruhigen, redete auf sie ein. Ohne Erfolg. Mrs. Corvey verließ fluchtartig das Restaurant, und ihm blieb nichts übrig, als hinter ihr herzueilen. Der Kellner schaute den beiden perplex nach.

    »Sie ist tief verletzt«, sagte Janet.
    »Wenn ich ehrlich bin«, meinte Andrew, »habe ich nicht allzuviel Sympathie für diese Frau. Für die Tatzeit des letzten Verbrechens gibt sie ihrem Sohn ein Alibi, von dem ich überzeugt bin, daß es nicht stimmt. Ich wette, diese Frau hat in ihrem ganzen Leben noch kein unwahres Wort gesprochen, aber für ihren Sohn lügt sie. Sie würde für ihn töten.«
    »Sie liebt ihn sehr, nicht?« »Abgöttisch. Ihr Mann ebenso. Das Klischee vom Verbrecher mit der grausamen Kindheit trifft bei Fred Corvey nicht in mindesten zu. Sie waren sicher arm, aber er bekam alle nur denkbare Liebe und Fürsorge.«
    Janet legte ihre Speisekarte zur Seite. Sie hatte keinen Hunger mehr. Trotz des milden Wetters fröstelte sie und wußte, daß es eine Kälte war, die tief aus ihrem Innern kam.
     
     
    Die gemeinsamen Ferien hatten einen unguten Anfang genommen, und der erste Tag schien die Dinge nicht einfacher zu machen. Tina dachte, daß sie es gleich hätte merken müssen. Es war nicht richtig von Mario gewesen, sie zu dieser Gewaltfahrt ohne Unterbrechung zu zwingen. Und nun hatte sie auch noch feststellen müssen, daß er nicht ehrlich zu ihr gewesen war.
    Sie hatte tief und traumlos geschlafen und war erst gegen zehn Uhr am Vormittag erwacht. Sie hatte einen Moment gebraucht, um sich zu orientieren: die schrägen Wände, die Blümchentapete, die altmodische Kommode, das war nicht ihr Hamburger

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