Die Suende der Engel
Zimmer. Grelles, weißes Sonnenlicht flutete durch die Fenster. Eine heiße, südliche Sonne.
Tina verließ sofort das Bett, lief zum Fenster, öffnete es und lehnte sich weit hinaus. Es war heiß draußen, viel
heißer, als Tina vermutet hatte. Die Luft roch trocken und nach unbekannten Kräutern und Blumen. Tina jedoch vermochte das kaum zu würdigen, denn was sie sah, versetzte sie in Erstaunen: Nirgendwo auch nur ein winziger Fetzen des Mittelmeeres. Nirgendwo die Häuser und Straßen von Nizza. Nur eine wildromantische Einsamkeit, trockenes, braunes Gras, graues Felsgestein dazwischen, Lavendelfelder und blühende Wiesen, rotgesprenkelt von Mohnblumen. Den Horizont begrenzte ein dunkler Waldgürtel. Zikaden sangen. Ein Stück weiter entfernt schmiegten sich zwei Dutzend Häuser aus weiß-grauem Stein in die Hügel. Sie befand sich in einem winzigen Dorf irgendwo in der Provence. Keineswegs am Rande von Nizza, wie Mario behauptet hatte.
Mario hatte den Frühstückstisch auf der Terrasse im Schatten einiger Mandelbäume gedeckt; als er Tina entdeckte, sprang er auf, um in der Küche die Kaffeemaschine einzuschalten. Er sei schon in aller Frühe im Dorf gewesen, berichtete er, dort sei Markt, und er habe alles gekauft, was sie brauchten.
»Im Dorf, aha«, sagte Tina mürrisch und setzte sich. Sie wußte, es war nicht gut, gleich am ersten Morgen zu streiten, aber sie würde ersticken, wenn sie jetzt den Mund hielte.
»Wie nah ist es denn zum Meer?« fragte sie.
Mario schob ihr rasch ein Glas Orangensaft zu. Etwas schuldbewußt dachte Tina, daß er sich wirklich große Mühe gegeben hatte, alles für sie so schön und angenehm herzurichten wie nur möglich. Es schien ihr nicht fair, ihm jetzt Vorwürfe zu machen, aber im Augenblick war Fairneß einfach nicht das, was sie aufbringen konnte.
»Das Meer«, antwortete Mario nun vorsichtig, »ist nicht direkt in der Nähe...«
»Nein? Und wo ist es?«
»Wie - wo ist es?«
»Wie lange müssen wir laufen, um dort zu sein?«
»Zu Fuß ist das nicht möglich. Aber wir können sicher einmal mit dem Auto hinfahren.«
Tina schob demonstrativ Tasse, Teller, Glas von sich weg. »Einmal mit dem Auto hinfahren?« fragte sie. »Verflixt, Mario, soviel ich weiß, liegt Nizza direkt am Meer!«
»Wir sind hier nicht in Nizza.«
»Was du nicht sagst! Das klang aber ganz anders, bevor wir losgefahren sind!«
»Ich habe gesagt: in der Nähe von Nizza«, verteidigte sich Mario etwas kläglich.
»Am Rande, das waren deine genauen Worte. Aber hier sind wir in... in der Mitte von Nirgendwo!«
Mario legte seine Hand auf Tinas Arm. »Ist es so wichtig, wo wir sind?«
Tina zog ihren Arm weg. »Es ist wichtig, daß du mich angeschwindelt hast. Damit komme ich nicht zurecht. Du wußtest, daß ich irgendwohin wollte, wo etwas los ist. Aber du schleppst mich in die absolute Einsamkeit.«
»Ich dachte nicht, daß du zu den Mädchen gehörst, die jeden Abend in Diskotheken und Kneipen herumhängen und sich für andere Männer zur Schau stellen.«
»Wenn du das nicht dachtest, hättest du ja auch gleich die Wahrheit sagen können!« schnappte Tina.
Mario stand auf, um den Kaffee zu holen. Tina lehnte sich in dem weißlackierten Korbstuhl zurück. Die Sonne schien, und es war schön hier, wirklich schön. Es war nur anders, als sie erwartet hatte. Vielleicht hätte sie deshalb nicht gleich so gekränkt sein sollen. Aber es war manches zusammengekommen, was nicht so lief, wie sie es gern gehabt hätte: die lange Fahrt, dann die getrennten Schlafzimmer, nun die Entdeckung, daß Mario über ihren Aufenthaltsort nicht die Wahrheit gesagt hatte.
Zuviel auf einmal, dachte sie und schloß die Augen. Als sie das Telefon klingeln hörte, wußte sie, daß es ihr Vater war, aber sie fühlte sich zu müde und zu frustriert, um aufzustehen und an den Apparat zu gehen. Vater hätte an ihrer Stimme sofort gemerkt, daß etwas nicht stimmte, und er hätte wieder und wieder nachgehakt. Sie mochte jetzt nicht reden.
Als Mario zurückkam, nahm sie nur etwas Kaffee, ließ Baguette, Eier und Kirschenmarmelade unberührt. Bis zum Mittag saßen sie zusammen und schwiegen, lauschten den Vögeln und dem vereinzelten zarten Gemecker, das von einer in der Nähe grasenden Ziegenherde her überklang. Tief atmete sie den Geruch, den der Wind von den Feldern brachte.
Michael saß in seinem Büro bei der Staatsanwaltschaft und wußte, es war albern, sich aufzuregen, nur weil dort in Duverelle niemand
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