Die Suende der Engel
ans Telefon ging. Vermutlich waren Tina und Mario einfach noch nicht eingetroffen. Sie hatten irgendwo übernachtet, lange geschlafen, gut gefrühstückt, sich vielleicht noch ein paar Sehenswürdigkeiten angeschaut. Wahrscheinlich kamen sie erst gegen Abend im Ferienhaus an.
Er schaute auf die Uhr. Kurz vor drei. Woher kam diese fiebrige Nervosität in ihm? Er hatte zu viele andere Probleme, als daß er es sich hätte leisten können, ununterbrochen an seine Tochter zu denken. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Akten. Am Vormittag hatte er einen wichtigen Fall verloren, zumindest war das Gericht so weit unter dem von ihm geforderten Strafmaß geblieben, daß er das Urteil nur als Niederlage verbuchen konnte. In der Beratungspause hatte er zum ersten Mal in Südfrankreich angerufen, ohne Erfolg.
Lieber Himmel, es ist höchste Zeit, daß sich Tina von
mir abnabelt, dachte er, allerhöchste Zeit. Meine Angst um sie ist nicht normal. Wahrscheinlich bin ich ein Nervenbündel, bis sie zurückkehrt.
Er schlug eine der Akten auf, versuchte sich zu konzentrieren, blickte dann wieder hoch, starrte das Telefon an. Er konnte es nicht aushalten, nahm den Hörer ab und wählte erneut die Nummer in der Provence.
Wieder reagierte niemand. Kurzentschlossen drückte Michael die Gabel nieder und rief bei Dana an.
Es dauerte lange, bis jemand an der anderen Seite abnahm. »Ja?« knurrte eine verschlafene, kratzige Stimme.
»Entschuldigung«, sagte Michael, »ich wollte Dana... äh...« Ihm fiel beim besten Willen nicht ein, wie Dana mit Nachnamen hieß. »Ich wollte Dana sprechen«, sagte er schließlich und kam sich wie ein Idiot vor.
»Ich bin Karen«, erwiderte die heisere Stimme, »Danas Mutter.« Sie gähnte unüberhörbar.
»Verzeihen Sie, ich habe Sie offenbar geweckt«, stotterte Michael. Es war drei Uhr! Warum, um Gottes willen, schlief die Frau um diese Zeit?
»Schon okay. Konnten Sie ja nicht wissen. Ich hab’ zur Zeit keine Arbeit, also bleibt mir nichts anderes übrig, als viel zu pennen.«
»Äh... das tut mir leid... ich meine, daß ich Sie geweckt habe...« Ich höre mich an wie ein stammelnder Schuljunge, dachte er zornig, es gibt wahrhaftig nicht den geringsten Grund, aus der Fassung zu geraten. Dann fiel ihm ein, daß er sich noch nicht einmal vorgestellt hatte. »Ich bin Michael Weiss«, sagte er, »der Vater von Tina.«
Wieder gähnte es auf der anderen Seite. »Der Herr Staatsanwalt«, sagte Karen etwas spitz, »das ist aber eine Ehre!«
Es ist einfach eine andere Welt, dachte er. Sie hat keine Arbeit, schläft bis in die Puppen und hält mich vermutlich
für einen reaktionären Spießer. Ich bin Staatsanwalt, kenne zeitlebens nichts als Pflichterfüllung, und für mich ist sie eine linke Ziege. Wären unsere Töchter nicht befreundet, wir gingen einander tunlichst aus dem Weg.
»Ist Dana denn zu sprechen?« fragte er.
»Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, wo sie ist«, erwiderte Karen. Sie hörte sich langsam etwas wacher an, wenn auch ihre Stimme noch immer klang, als habe sie Nächte voller Schnaps und Zigaretten hinter sich. »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
»Nein, es ist nur...« Michael kam sich immer lächerlicher vor. »Dana besuchte mich gestern abend«, sagte er schließlich, »wir sprachen über Mario Beerbaum. Wissen Sie, das ist der junge Mann, der...«
Von Karen kam ein leises Stöhnen. »Ich weiß, wer das ist, ja. Nur zu gut. Dana redet ständig von ihm. Hat sie Ihnen auch erzählt, sie habe ein >komisches Gefühl< bei ihm?«
»Sie sagte so etwas, ja.«
»Lassen Sie sich bloß nicht verrückt machen. Dana hat sich da in was reingesteigert. Ich vermute, daß Eifersucht dahintersteckt. Tina gehört ihr nicht mehr allein.«
»Sie sagte mir, daß dies Ihre Theorie ist. Allerdings wäre es doch möglich, daß sie nicht von Eifersucht, sondern von einem durchaus ernst zu nehmenden, gesunden Instinkt geleitet wird.«
Etwas genervt erwiderte Karen: »Ich glaube, Herr Staatsanwalt, Sie haben einfach ein großes Problem mit der Tatsache, daß Ihre Tochter sich irgendwo in Südfrankreich mit einem Kerl amüsiert, und Dana hat dieses Problem auch. Ihr habt beide in dem Gefühl gelebt, daß Tina nie erwachsen wird, und jetzt seid ihr schockiert, daß sie auf einmal Anstalten macht, es doch zu werden. Und so schießt ihr euch auf den armen Mario ein, der sicher ein
ganz normaler, verliebter Junge ist und keine Ahnung hat, welche Aufregung er heraufbeschwört.«
»Vielleicht
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