Die Suende der Engel
und sagte, sie sei Journalistin, und wie sie es bei ihm vermutet hatte, verlangte er weder einen Ausweis noch eine Karte zu sehen. Er geleitete sie sofort in sein Wohnzimmer, das mit wuchtigen alten Möbeln zugestellt war und überquoll von Büchern, bot ihr einen Sessel an und fragte, ob sie Kaffee oder Tee wolle.
»Danke, nein. Ich habe gerade gefrühstückt. Herr Frank«, sie hatte seinen Namen auf dem Klingelschild gelesen, »Herr Frank, ich würde gern mit Ihnen über die Familie Beerbaum sprechen. Die wohnten ja nebenan. Ich meine, haben Sie sie noch erlebt?«
»Junge Frau«, sagte Albrecht Frank stolz, »ich wohne in diesem Haus seit 1938! Ich habe in der Straße viele kommen und gehen sehen, natürlich auch die Beerbaums. Sie sind also«, er senkte ein wenig die Stimme, »wegen der Geschichte hier?«
Es gab also eine Geschichte. Eine Geschichte, aufregend genug, einen alten Mann flüstern zu lassen? Karen wußte, es konnte sich durchaus um simplen Nachbarschaftstratsch handeln; Herr Beerbaum hatte seine Frau betrogen, oder Mario war in der Schule sitzengeblieben. Dennoch, der journalistische Spürhund in ihr war erwacht. Ihre völlige Unwissenheit kaschierend und zugleich wissend, daß sie Worte traf, die wie Flötentöne in Albrecht Franks Ohren waren, sagte sie: »Ich muß alles von Anfang an wissen.«
»Ich weiß alles«, sagte Albrecht rasch, »nicht, daß Sie denken, ich lausche an fremder Leute Türen... aber das eine oder andere kriegt man mit, und wenn man allein ist
wie ich, dann sind die Nachbarn noch wichtiger. Meine Frau ist Ende der siebziger Jahre gestorben, seither bin ich sehr einsam. Und meine Kinder sind in Amerika verheiratet. Da gibt es nicht viel Gelegenheit, sich zu sehen, auch wenn sie natürlich...«
»Ich verstehe durchaus, daß Sie manches gehört oder gesehen haben«, unterbrach Karen sanft, »das läßt sich in so einer Siedlung ja gar nicht vermeiden.«
»Ich habe die Jungs sehr gerne gemocht«, sagte Albrecht, »obwohl ich sie natürlich auch nie auseinanderhalten konnte. Aber die beiden...«
»Moment!« Karen richtete sich auf, sah ihn verständnislos an. »Jungs? Wir reden von den Beerbaums, nicht?« Hoffentlich war der Alte nicht verwirrt.
Er nickte. »Ja. Zwei Jungs hatten die. Mario und Maximilian. Zwillinge. Die sahen völlig gleich aus. Ich glaube, nur die Mutter konnte sie unterscheiden.«
»Entschuldigung«, sagte Karen verstört, »offenbar wurde ich von meinem Chefredakteur unzureichend informiert. Ich ging bisher davon aus, es gebe nur einen Sohn. Mario.«
»Kindchen, Ihr Chef wollte wohl mal sehen, ob Sie von allein hinter die Fakten kommen. Wie gut, daß Sie mich getroffen haben. Ich kenne die Details.«
Hatte Dana vergessen, den Bruder zu erwähnen? Karen hielt das für unwahrscheinlich. Es ging nicht um irgendeinen Bruder, es ging um einen eineiigen Zwilling. Dana hatte oft genug von Mario geredet, sie hätte auch von diesem Maximilian erzählt, hätte sie von seiner Existenz gewußt. Also war auch Tina ahnungslos. Warum unterschlug Mario seinen Bruder?
»In der Familie war nicht alles in Ordnung?« fragte sie aufs Geratewohl.
Albrecht Frank kicherte. »So kann man es nennen. Nicht
alles in Ordnung. Obwohl man ja erst dachte, das ist eine Bilderbuchfamilie. Er war Steuerberater, sie arbeitete mit ihm. Muß sehr tatkräftig geholfen haben, die Kanzlei aufzubauen. Eine gescheite Frau. Und hübsch.« Er zwinkerte mit den Augen. »Das hat sogar ein alter Mann wie ich noch gemerkt!«
»Man dachte, eine Bilderbuchfamilie...?«
»Na ja, sie gingen nett miteinander um. Dann kamen die Zwillinge. Beide gesund und munter. Schien alles in Ordnung. Doch dann tauchte er auf...« Albrecht war wieder leise geworden.
»Er?«
»Janet, also Janet Beerbaum, die Mutter, hatte sechs Jahre lang ein Verhältnis mit einem anderen Mann. Es begann kurz nach der Geburt der Kinder.«
»Oh...«
»Die ganze Straße hat es gewußt. Ich meine, die haben sich auch nicht allzuviel Mühe gegeben, die Geschichte geheimzuhalten. Er kam fast jeden Tag. Nur nicht am Wochenende, da war ja auch ihr Mann zu Hause. Aber sonst... mittags immer. In seiner Mittagspause wohl.«
»Und Sie sind sicher...?«
»Daß er ihr Liebhaber war? Ich bitte Sie, das war einfach nicht zu übersehen. Ich hab’ manchmal zufällig beobachtet, wie sie ihn in der Haustür begrüßte. Also, so begrüßt man keinen Bekannten oder Verwandten. So begrüßt eine Frau den Mann, den sie liebt.«
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