Die Suende der Engel
Stummfilm... und dann hörte ich die Musik. Richtig laute, dröhnende Musik. Viel zu laut, besonders um diese Uhrzeit. Ich konnte mir das nicht erklären, niemand in der Gegend war so rücksichtslos. Es kam aus dem Beerbaumschen Haus, so stand ich auf und sah aus dem Fenster.«
Was er sah, hatte ihn überrascht. Das Haus der Beerbaums war hell erleuchtet gewesen; in jedem Zimmer brannte Licht. Alle Fenster im ersten Stock standen weit offen. Überlaute Musik hämmerte durch die Nacht, Wagner-Opern, wie sich später herausstellte.
»Es war richtig unheimlich. Da stimmt doch was nicht, dachte ich. Irgend etwas sagte mir, ich solle besser hin übergehen und nachsehen, aber ich traute mich nicht. Ich fürchtete, mich lächerlich zu machen. Die jungen Leute schlugen ein bißchen über die Stränge, und wenn ich da auftauchte... Bis heute verzeihe ich es mir nicht, daß ich nicht doch meinem Instinkt gefolgt bin. Denn irgendwo wußte ich, daß das alles einfach nicht zu Maximilian paßte. Sein Umgang mit diesem Mädchen war auffallend... keusch gewesen. Eine Orgie bei wilder Musik... das war irgendwie absurd.«
Er war dann schlafen gegangen. Sein Schlafzimmer lag nach der anderen Seite, so hatte er trotz der lauten Musik einschlafen können. Am nächsten Morgen hatte er sich sofort erinnert und war wieder zum Fenster gegangen, um nachzusehen. Die Musik war verstummt, aber noch immer brannten alle Lichter, standen alle Fenster offen.
»Ich beschloß, nun doch rüberzugehen. Ich wollte sagen,
daß ich Brötchen holen gehe und daß ich wissen wollte, ob ich ihnen was mitbringen könnte. Aber als ich hinkam, stand die Haustür sperrangelweit offen, und auf mein Klingeln und Rufen reagierte niemand. Ich ging hinein...«
Im Erdgeschoß hatte er nichts Auffälliges entdecken können. Im Wohnzimmer brannte am CD-Player noch das rote Licht, das anzeigte, daß das Gerät angeschaltet war. Die CD war jedoch bis zum Ende gelaufen. Auf der Lautstärkenskala war die höchste Zahl eingestellt.
Albrecht war vorsichtig die Treppen hinaufgestiegen. Oben hatte eine unvorstellbare Unordnung geherrscht. »Es waren Bilder von den Wänden gerissen, Blumenvasen umgestürzt, Bücher umgeworfen. Es sah aus, als habe eine Schlacht getobt, als habe ein Kampf auf Leben und Tod stattgefunden.«
Zögernd ging er durch alle Zimmer, inzwischen voller Angst, worauf er schließlich stoßen würde. Er ahnte, daß ihn etwas Schreckliches erwartete. Und dann hatte er sie gefunden. Im Zimmer von einem der Jungen - Maximilians Zimmer, wie er später erfuhr. Sie lag auf dem Boden, kalkweiß im Gesicht, die Augen geschlossen. Um ihren Kopf herum war der helle Teppichboden getränkt mit Blut. Blaurote Würgemale entstellten ihren Hals. Sie schien tot zu sein.
»Ich war wie erstarrt. Ich stand nur da und wußte nicht, was ich tun sollte. Es war unfaßbar... furchtbar. Und dann sah ich plötzlich, daß sie atmete. Ganz schwach. Ich stürzte ans Telefon und rief den Notarzt an.«
»Und... der Täter war Maximilian?« hatte Karen mit belegter Stimme gefragt.
Albrecht hatte genickt. »Er stellte sich zwei Tage später der Polizei. Er hatte sie gewürgt. Im Kampf war sie hingefallen und dabei mit dem Kopf auf der Schreibtischkante
aufgeschlagen, daher die schlimme Verletzung und das Blut. Maximilian hielt sie für tot und ließ sie liegen.«
»Mein Gott! Und jetzt... sitzt er im Gefängnis?« Albrecht hatte den Kopf geschüttelt. »Ein Gutachter hat ihn für schuldunfähig erklärt. Für psychisch krank. Er sitzt in einer geschlossenen Anstalt. Irgendwo in Norddeutschland. Die Familie ist, glaub’ ich, nach Hamburg gezogen. Die konnten den Leuten hier nicht mehr ins Gesicht schauen. Kann man ja verstehen...«
Ein Mordversuch. Eine psychiatrische Klinik. Ein Mädchen, für den Rest seines Lebens ein Pflegefall. Ein Zwillingsbruder, der von der Familie totgeschwiegen wurde. Ein Liebhaber der Mutter; ein Vater, der schweigend ertrug. Das Chaos hinter der bürgerlichen Fassade...
Karen saß im Taxi, und all diese Gedankenfetzen schwirrten in ihrem Kopf umher. Eine ungeheuerliche Geschichte, die sie Michael nun gleich überbringen mußte. Was würde in ihm vorgehen, wenn er erfuhr, daß seine Tochter mit einem Mann unterwegs war, dessen Bruder geistesgestört war, ein Mädchen zu töten versucht hatte und nun in einer Anstalt einsaß?
Vor dem Hotel zahlte sie und stieg aus dem Taxi. Sie entdeckte Michael gleich im Foyer. Er stand auf und kam auf sie zu. Seine
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