Die Sünde in mir
viele Blumen. Aber ich gehe nicht zum Fenster hin, recke nur den Hals. Ob ich Ärger bekomme? Verzweifelt überlege ich, was ich angestellt haben könnte. Vielleicht haben sie das mit Christian rausgekriegt? Mein Herz rutscht mir in die Hose. Es dauert ewig, bis die Tür endlich aufgeht. Eine alte Frau in einem grauen Rock sieht mich an. Sie wirkt streng. Ihre weiße Bluse hat so einen hohen Kragen, dass ich ihren Hals nicht sehen kann. Ein Goldkettchen erkenne ich aber.
„Komm herein“, werde ich aufgefordert.
Meine Knie sind ganz weich, so wie Pudding. Ich weiß nicht, ob ich damit laufen kann, aber es geht.
„Setz dich dort hin.“
Erleichtert, dass ich nicht länger stehen muss, setze ich mich. Meine Füße baumeln in der Luft. Ich schaue nach unten.
„Ich habe deine Eltern angerufen, weil du auf der Krankenstation warst“, sagt die Direktorin und sieht mich komisch an. Mein Herz macht einen Hüpfer. Meine Eltern wissen Bescheid, dass es mir nicht gut geht. Sicher holen sie mich ab!
„Da es dir jetzt wieder besser geht, wollte ich Ihnen das ebenfalls mitteilen. Möchtest du mit ihnen reden?“
Ich reiße die Augen auf. Was hat sie gesagt? Ich darf mit meinen Eltern sprechen? Ich kann es gar nicht glauben! Schnell nicke ich.
„Gut. Dann rufe ich jetzt an. Du kannst als Erste sprechen und sie beruhigen, dass es dir wieder gut geht.“
Mir wird heiß und kalt, als ich sehe, wie sich die Wählscheibe dreht. Es ist eine lange Nummer. In meinem Kopf schwirrt alles durcheinander. Was soll ich sagen? Darf ich überhaupt erzählen, wie schlimm es hier ist, wenn die Direktorin mir zuhört? Ich werfe ihr einen zweifelnden Blick zu. Wird sie böse sein, wenn ich sage, dass ich nach Hause will?
Meine Hände sind ganz schwitzig, als sie mir den Hörer gibt. Ich habe noch nicht oft telefoniert, aber ich weiß, dass man sich den Hörer ans Ohr halten muss. Es tutet und dann meldet sich jemand mit: „Lindemann?“
Es ist Mamas Stimme! Ich fange an zu weinen, so heftig, dass ich gar nicht sprechen kann, nur schluchzen.
„Wer ist denn da? Hallo?!“
Ich versuche meinen Namen zu sagen, aber alles, was raus kommt, ist: „Mama!“ Die Direktorin ist aufgestanden und will mir den Hörer wegnehmen, aber ich lasse ihn nicht los. Eine zweite Frau kommt ins Zimmer und hält mich fest. Ich kann noch einmal: „Mama!“, schluchzen, dann wird mir der Hörer aus der Hand gerissen.
„Nein, nein. Es ist alles in Ordnung“, höre ich die Direktorin sagen, während mich die andere Frau festhält.
„Das ist der Grund, warum wir die Kinder nicht telefonieren lassen. Sie bekommen dann nur noch mehr Heimweh. Machen Sie sich bitte keine Gedanken. Wir heitern Nicole schon wieder auf. Sie ist gesund und es geht ihr bestens.“
Ich höre zu, was die Direktorin sagt und kann nicht aufhören zu weinen. Ob Mama mich hört? Ich würde am liebsten durch das Telefon kriechen. Ob sie mir den Hörer noch mal geben?
„Ja, ich bestelle ihr schöne Grüße. Nein, es gibt wirklich keinen Grund sich Sorgen zu machen. Sie hat schon zugenommen und ihre Lunge wird auch langsam besser. In ein paar Wochen ist sie ja wieder zu Hause. Bis dahin wird sie hier bestens versorgt. Ich verbürge mich persönlich dafür. Natürlich. Wenn etwas ist, rufe ich Sie sofort an. Danke. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“
Kapitel 67
„Herr Professor! Ich habe gehört, dass Herr Schütz da war?“ Frank lief Professor Wieland hinterher, der gerade in sein Büro gehen wollte.
„Das stimmt. Kommen Sie doch bitte mit. Ich wollte sowieso mit Ihnen reden.“
Aufgeregt folgte Frank seinem Chef in dessen Büro. Hier hatten sie schon oft gesessen und sich über Patienten ausgetauscht. Frank mochte die Atmosphäre. Es roch nach Holz und alten Büchern, fast wie in der Bibliothek seines Großvaters.
„Wie ist es gelaufen? War er bei ihr?“ Frank konnte seine Neugier kaum noch zügeln.
„Ja. Ich bin mit ihm zu seiner Frau gegangen. Ich denke, es war gut für ihn, sie zu sehen. Er hat festgestellt, dass sie sich nicht in ein Monster verwandelt hat, und ist jetzt bereit mit uns zu reden.“
„Das ist ja toll!“, freute sich Frank. Endlich ein Fortschritt!
„Hat sie denn auf ihn reagiert?“
Professor Wieland goss sich Kaffee ein und sah Frank fragend an. Dieser nickte. Zwar war er von Gisela schon reichlich versorgt worden, aber er konnte seine Hände besser im Zaum halten, wenn er etwas festhielt.
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