Die Sünde in mir
weiter. Ich kenne die Melodie, aber ich weiß nicht, welches Lied das ist. Wolf hebt mich hoch und trägt mich zur Badewanne. Vorsichtig lässt er mich ins warme Wasser gleiten.
„Na siehst du. Alles halb so schlimm. Gleich fühlst du dich viel besser. Ich wasche dich jetzt und dann packe ich dich schön warm ein.“
Er nimmt einen Waschlappen und fängt an mich zu waschen. Ich sitze da und lasse alles mit mir machen. Ich lausche der Melodie, die er summt, und versuche mich an den Text zu erinnern.
Irgendwann ist der Waschlappen weg und ich fühle nur noch seine Finger. Er wäscht meine Brust und meinen Bauch. Dann lässt er seine Hand tiefer rutschen, auf meinen Oberschenkel.
„Guten Abend, gut‘ Nacht. Mit Rosen bedacht.“
Ich presse die Beine zusammen, aber er ist stärker.
„Mit Näglein besteckt, schlüpf unter die Deck.“
Es tut weh! Er soll aufhören! Ich will das nicht! Es ist nicht richtig, dass er das macht.
„Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“
Hoffentlich will er nicht! Hoffentlich holt er mich! Ich möchte nicht mehr hier sein!
Kapitel 70
„Moment. Erklären Sie mir das bitte noch einmal?“
Herr Schütz hatte den Termin mit Professor Wieland eingehalten und befand sich jetzt in dessen Büro.
„Aber natürlich. Wir würden bei Ihrer Frau gerne ein Therapieverfahren einsetzen, das sich Elektrokonvulsionstherapie oder kurz EKT nennt. Durch leichte Stromstöße wird das Gehirn stimuliert. Gerade bei Patienten mit Katatonie, wie bei Ihrer Frau, wirkt diese Therapie Wunder. Genau ist noch nicht geklärt, wie der Strom wirkt, aber man nimmt an, dass im Gehirn Neurotransmitter und Hormone so beeinflusst werden, dass quasi ein Neustart durchgeführt wird, eine Art Reset.“
„Sie wollen meiner Frau Elektroschocks verpassen?“, fragte Herr Schütz ungläubig.
Professor Wieland schüttelte bekümmert den Kopf.
„Verwechseln Sie das bitte nicht mit Szenen aus Horrorfilmen. Diese Therapie ist von Ärzten entwickelt worden und ihre hohe Wirksamkeit wurde mit verschiedenen Studien belegt. Ihre Frau würde nichts spüren. Sie bekäme eine leichte Narkose und ein Muskelrelaxans.“
„Und danach ist sie wieder normal?“
„Sagen wir mal, ihr Gehirn wird sich neu sortieren. Dabei kann es zu kleinen Gedächtnislücken kommen, die aber nur den Zeitraum kurz vor der EKT und kurz danach umfassen. Normalerweise kehrt die Erinnerung von alleine zurück. Wichtig ist nicht dieser kurze Zeitraum, sondern ihr sonstiges Gedächtnis. Sie glaubt immerhin, sie sei erst sechs Jahre alt.“
„Unglaublich“, murmelte Herr Schütz und schüttelte den Kopf.
„Was wissen Sie über die Kindheit Ihrer Frau?“
„So gut wie nichts. Sie hat nie darüber reden wollen. Natürlich weiß ich, wo sie gelebt hat und dass ihre Eltern streng waren. Der Vater hat sich umgebracht, als sie noch klein war. Selbst das habe ich erst kurz vor unserer Hochzeit erfahren und da kannten wir uns schon fast vier Jahre. Sie hat dann wohl nur noch mit ihrer Mutter zusammengelebt. Als wir uns kennenlernten, war sie aber schon ausgezogen. Ich glaube, wir haben ihre Mutter nur ein paar Mal besucht. Nicole legte auch keinen Wert darauf, ihr von den Schwangerschaften zu erzählen oder ihr die Kinder zu zeigen.“
„Das kam Ihnen merkwürdig vor?“
„Nun ja. Meine Eltern leben schon lange nicht mehr. Nicoles Mutter wäre die einzige Großmutter gewesen. Ich dachte schon, dass sie sie mal einladen oder besuchen würde.“
„Aber das hat sie nie gemacht?“
„Nicht dass ich wüsste.“
„Gut. Nun zu etwas Anderem: Wie ist sie selbst als Mutter?“
„Beim ersten Kind hatte sie Probleme. Die Schwangerschaft war schwierig, und als unsere Tochter endlich da war, konnte sie nicht so recht etwas mit ihr anfangen. Die Ärzte stellten eine Schwangerschaftsdepression fest, doch das ging vorbei. Sie nahm eine Weile Medikamente und machte eine Therapie. Danach war sie immer liebevoll zu den Kindern und hat sich viel mit ihnen beschäftigt, Ausflüge unternommen und so weiter. Was eine Mutter halt so macht.“
„Ist ihr Verhalten sonst irgendwie auffällig gewesen? Hatte sie vielleicht irgendeinen Spleen?“
Herr Schütz schmunzelte.
„Das Haus musste immer tipptopp in Ordnung sein. Sie hatte einen Putzfimmel. Aber manchmal gab es Tage, da war ihr alles egal. Sie blieb im Bett, schob eine Grippe oder sonst eine Krankheit vor und lag den ganzen Tag nur da. Einmal
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