Die Sünde in mir
denn noch mal mit jemandem aus ihrer Familie gesprochen?“
„Ich war bei einem Gespräch mit ihrem Mann dabei und habe ihre Mutter ein weiteres Mal besucht. Langsam kennen die in dem Heim mich schon.“
Er schmunzelte, wenn er an die alten Leute dachte, die ihn mit großen Augen erwartungsvoll ansahen, wie kleine Kinder den Weihnachtsmann. Es war schon eine Schande, wie wenig Besucher zu den Heimbewohnern kamen. Frank nahm sich vor, seine Eltern jeden Tag zu besuchen, sollten sie einmal in so einer Einrichtung landen, was er nicht hoffte.
„Und? Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.“
„Frau Lindemann, also Nicoles Mutter, fallen immer mehr Details ein. Ich glaube, sie denkt darüber nach, wenn ich gegangen bin, damit sie mir beim nächsten Mal etwas zu erzählen hat. Sie ist auch schon wesentlich aufgeschlossener als am Anfang.
Die Kekse waren leer und Franks Hand fischte vergeblich in der Dose herum.
„Ich habe Einzelheiten über den Tod der Schwester von Nicole erfahren und auch über den Selbstmord des Vaters. Es muss schlimm für Nicole gewesen sein, so viele Menschen in relativ kurzer Zeit zu verlieren. Ihre Oma verstarb, als sie noch in der Kur war. Als Nicole zurückkam, war auch die Pflegeschwester Tanja nicht mehr da. Sie wurde von ihrem leiblichen Vater abgeholt, der ein Bruder von Nicoles Vater war. Danach hat niemand mehr etwas von der kleinen Tanja gehört. Ich würde zu gerne wissen, wo sie heute lebt, aber ich habe unter ihrem Namen nichts gefunden. Vielleicht ist sie mittlerweile verheiratet. Jedenfalls passierte kurz nach der Rückkehr Nicoles aus der Kur der Unfall der großen Schwester. Sie ist auf einer Hauptstraße vor ein Auto gelaufen, obwohl sie sonst als sehr vorsichtig galt. Die Mutter kann sich bis heute nicht erklären, wie es dazu kommen konnte. Sie hat den Tod der ältesten Tochter noch immer nicht verarbeitet, obwohl es schon so lange her ist. Sabine lag noch drei Tage auf der Intensivstation, wurde aber nicht mehr wach und starb an ihren schweren Verletzungen. Es war damals verboten kleine Kinder mit auf die Station zu nehmen und so hat Nicole sich nicht von ihrer Schwester verabschieden können. Wenige Wochen danach erschoss der Vater sich in seiner Laube im Schrebergarten. Er hinterließ einen Brief, aus dem aber niemand so recht schlau wurde. Er entschuldigte sich generell für alles, was er getan hatte, nannte aber keinen speziellen Vorfall.“
Gisela seufzte tief: „Die Arme! Dann blieb ihr nur noch die Mutter?“
Frank nickte: „Ja. Aber statt sich der Mutter nun anzunähern und sich an die letzte Person zu klammern, die ihr geblieben war, soll Nicole auf Abstand gegangen sein. Sie ließ keine körperlichen Kontakte mehr zu und reagierte oft panisch. Die Mutter war darüber sehr traurig und ging schließlich mit Nicole zum Arzt. Damals war man in der Psychologie noch nicht so weit wie heute. Selbst in den Siebzigern wurden viele Patienten einfach weggesperrt. Der Arzt verschrieb wohl lediglich ein Schlafmittel und riet der Mutter dazu, dem Kind Zeit zu lassen, um zu trauern.“
Kapitel 86
Ich erinnere mich an Dinge! Es ist nicht wie ein Film, aber ich sehe eine Art Standbild. Nur weiß ich nicht, was wahr ist und was nicht. Die Bilder sind durcheinander. Einige scheinen mir vertrauter als andere.
Ich sehe Kinder. Vielleicht bin ich selbst eins davon. Ein kleines Mädchen mit blonden langen Haaren und hellblauen Augen fällt mir auf. Sie ist so hübsch. Ich beneide sie um ihre Haare. So welche hätte ich auch gerne. Mein Haar ist kurz und braun. Ich versuche es zu sehen und verdrehe die Augen zur Seite, aber ich erkenne nur das weiße Kissen, auf dem ich liege.
Manche Kinder sind groß und manche noch Babys. Ich kann plötzlich spüren, wie ich eins im Arm halte. Das warme Gewicht in meiner Armbeuge ist für den Bruchteil einer Sekunde da. Ich senke automatisch den Blick und meine in ein rosiges Babygesicht zu schauen. Der Moment ist so schnell vorbei, dass ich nicht weiß, ob es ihn wirklich gegeben hat.
Ich habe so furchtbare Kopfschmerzen!
Die Erinnerung an Oma ist am deutlichsten. Ich sehe sie so, wie ich sie am liebsten gehabt habe. Oma sitzt im Bett neben mir, ein Kissen in den Rücken gestopft, und liest mir eine Geschichte vor. Ich kuschele mich an ihre Seite und rieche ihren ganz eigenen Duft. Alte Leute riechen komisch. Der Duft ist auch jetzt da und ich atme ihn tief ein. Dann verfliegt er.
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