Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
die meisten drogenabhängig mit ausgemergelten Körpern und hervorstehenden Venen, aber für meine Zwecke völlig ausreichend. Vor jeglicher Art von Verkehr schickte ich sie erst mal unter die Dusche, außerdem hatte ich stets eine frische Zahnbürste parat. Manche hielten die Zahnbürste für ein Geschenk. Traurig, aber wahr. Die meisten sind zu ausgezehrt, als dass sie attraktiv wären. Man sollte meinen, sie gäben sich mehr Mühe mit ihrem Äußeren. Fehlanzeige. Andererseits verkaufen sie nur ihre diversen Körperöffnungen, auf die Verpackung kommt es nicht an. Trotzdem fühlte ich mich schon immer zu ihnen hingezogen. Meine Mutter war schließlich auch so eine, wenn man meinem Vater glauben will.
Doch zurück zu besagtem Abend, als Alice mich zu weit getrieben hatte. Ich brauchte eine Weile, um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen, dann ging ich ins Esszimmer. Auf dem Boden lag sie Gott sei Dank nicht mehr. Sie saß in der Küche, wärmte sich die eine Hand an einer Teetasse, mit der anderen hielt sie sich das Gesicht. Ohne jede Gefühlsregung sah sie mich an. Mir fiel auf, dass ihre rechte Wange leicht gerötet war. Aber kein Bluterguss. Noch nicht. Ich schaute sie an, lächelte.
Die Holzschatulle, in der ich meine dunkelsten Geheimnisse verwahrt hielt, stand auf dem Tisch im Flur; der Deckel sperrangelweit offen, das Schloss aufgebrochen, der Inhalt preisgegeben.
»Lügner!«, sagte sie mit tonloser Stimme.
Sie hatte es ganz offensichtlich darauf angelegt, mich zu ruinieren.
Als ich Alice zum zweiten Mal schlug, konnte ich einfach nicht mehr aufhören. Das bedauere ich zutiefst. Seit meinem achtzehnten Lebensjahr habe ich mein Leben unter Kontrolle; die Kontrolle zu verlieren ist gleichbedeutend mit Versagen.
Selbstverständlich ist mir nicht erlaubt, sie im Krankenhaus zu besuchen. Lächerlich, wirklich. Es ist jetzt drei Monate her, und in ihrem Zustand bekommt sie sowieso nichts mit.
Wie es aussieht, bin ich doch ein zur Gewalt neigender Mensch. Das hat mich schockiert, ganz ehrlich. Man hat ein psychologisches Gutachten von mir erstellt. Ich entschied mich, ganz offen zu sein, und habe ihnen fast alles erzählt. Angeblich soll ich seit frühester Kindheit Frustrationen, Verbitterung und tiefe Ressentiments hegen. Na gut, das hätte man sich denken können. Überhaupt, was wird man jetzt von mir denken? Und was die Nachbarn wohl sagen werden?
Als ob mich das kümmert.
II
BARNEY
Alice O’Reilly kam aus der Avenue, wir aus den Villas. Das hat bei uns im Viertel einen himmelweiten Unterschied gemacht, eigentlich bis heute. Die Häuser an der Avenue waren viermal so groß, und die Gärten reichten bis hinten an unsere Siedlung heran. Villa klingt irgendwie vornehm und nach Süden, als hätte man Sonne, Strand und Meer direkt vor der Haustür. Für unsere kleinen, grau verputzten Häuser am Stadtrand hätte der Name deshalb gar nicht unpassender sein können.
Die Schnösel aus der Avenue, wie wir die genannt haben, hatten ihre Leute, und wir hatten unsere. Auf andere Schulen sind sie auch gegangen. Aber die Familie von Alice war nicht so. Keine Snobs, die auf uns runtergeschaut hätten, nicht so wie der Rest aus der Avenue. Susan, meine kleine Schwester, war öfter bei den O’Reillys drüben, und ich weiß noch, wie meine Ma damit immer vor den andern Müttern angegeben hat. Als Kind achtet man ja eher nicht auf so was, aber ich kann mich noch gut erinnern, dass es eine richtig große Sache gewesen ist, wenn Alice uns besuchen kam. Ma hat uns extra unsere Schuhe putzen lassen. Ging mir ziemlich auf den Wecker, wenn ich ehrlich bin; als ob Alice auf unsere Schuhe geachtet hätte! Sie ist eher still gewesen, schon als Kind. Und auch nicht sonderlich hübsch, wenn Sie mich fragen. Nichts Besonderes, hätte ich damals gesagt.
Breda, die Mutter, war eine ganz Fromme, und Alice hat kaum ausgehen dürfen. Auf den Festen bei uns im Viertel ist sie nie aufgetaucht. Auf unseren gleich schon gar nicht, aber anscheinend auch nicht auf den Schnöselpartys. Das hatte wahrscheinlich mit Eugene zu tun, ihrem Bruder. Und dass Eugene so war, wie er war, hat wahrscheinlich am Alter der Mutter gelegen. Alices Ma war mit Abstand die älteste Mutter im ganzen Viertel. Bestimmt schon vierzig, als sie Alice bekommen hat, und Eugene dann noch mal vier oder fünf Jahre hinterher. Dass mit Eugene was nicht stimmte, haben wir eigentlich erst gemerkt, als er mit sieben immer noch nicht richtig laufen konnte. Und irgendwie
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