Die Suendenburg
nur elf aufzuklären. Zwei von ihnen waren langweilig – räuberische Überfälle aus Geldgier. In sieben Fällen tötete ein Weib seinen Mann, in zwei Fällen war es umgekehrt, was mich zu dem Gedanken verleitet, dass nicht in erster Linie die Ehefrauen, sondern die Ehemänner schlechter sind als ihr Ruf, sonst brächte man sie schließlich nicht um. Möglicherweise hängt das aber auch damit zusammen, dass die Männer reichlich Gelegenheit haben, ihrem Verdruss über was auch immer und auf welche Weise auch immer freien Lauf zu lassen, während dies den Frauen nicht gestattet ist. Es ist eine altbekannte Tatsache: Wasser sucht sich seinen Weg und Feuer ebenso.
Kein Verbrechen ist mir fremd. Was mir in den zehn Jahren, die ich als Vikar das Böse jage, inspiziere und bestrafe, noch nicht untergekommen ist, ist ein Mord, der von einem Geist begangen wurde (wohl aber hat die Angst vor Geistern schon so manchen tot umfallen lassen), und ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass dies auch so bleiben wird. So faszinierend die Gerüchte um die Agapidenburg auch sind – ich halte sie für Ausgeburten fantastischen Aberglaubens. Flüche und Dämonen sind Kreaturen, die weder von Himmel noch von Hölle, sondern von Menschen erschaffen werden, indem sie sich diese so lange einbilden, bis sie Gestalt bekommen. Die Wahrheit bringt sich somit selbst hervor. Ich kenne Vikare in anderen Städten, die mit Weihwasser besprengte Lose ziehen, um den Täter zu ermitteln. Da darf man sich nicht wundern, wenn das gemeine Volk den Leibhaftigen in jedem Faltenwurf zu sehen meint. Narren allesamt. Sie verstehen nichts. Der böse Geist ist immer der menschliche Geist, und je tiefer man in den Menschen schaut, desto mehr Ablagerungen des Bösen entdeckt man.
Meine Leidenschaft ist es, die Dunkelheit auszuleuchten. Doch das bedeutet zugleich, sich inmitten von Dunkelheit zu begeben, und darin liegt auch immer eine Gefahr. Der Übergang vom Licht ins Dunkel und umgekehrt ist fließend, nicht abrupt. Das Böse zu jagen heißt, ihm nahe zu kommen, Nähe bedeutet Beeinflussung, und sich einem starken Einfluss auszusetzen ist stets ein Wagnis. Den Abstand zum Verbrecher zu wahren und doch die Nähe zuzulassen, um ihn erkennen zu können, ist die größte Herausforderung an einen Vikar, der sein Amt so versteht, wie ich es tue. Denn was ich beim Eintreten in die Welt des Verbrechers vorfinde, ist das Menschliche. Ja, wo andere das Schicksal oder einfach nur den Teufel vermuten, erkenne ich das allzu Menschliche. Und so zieht es mich stets dorthin, wo das düstere Schicksal zugeschlagen hat.
Die Agapidenburg tut nach außen alles, um dem Eindruck eines düsteren Schicksalsorts entgegenzuwirken. In exponierter Lage erhebt sie sich stolz und stabil aus obstreichen Gründen, alten Wäldern, wogenden Weinhängen, imposanten Felsen und Abstürzen. Die Steine, aus denen sie gebaut ist, sind überraschend hell, fast gelb, und als ich in helllichter Sonne auf sie zuritt, strahlte sie schon von Weitem wie ein Bernstein, auf dem die Ziegeldächer wie rote Flecken liegen. Die Landschaft um die Burg herum ist hügelig, es gibt zahlreiche Wiesen, Äcker und Haine. Der Reichtum der Landschaft steht im Gegensatz zu der Armseligkeit der Dörfer. Die Bauersleute arbeiten mit gebeugten Rücken und Häuptern. Die großen Strohhüte machen sie zu gesichtslosen Wesen. Die Frauen unterscheiden sich von den Männern nur dadurch, dass sie ihre kleinen Kinder oder Enkel in riesige Tücher gewickelt auf dem Rücken tragen. Der Rhein ist an dieser Stelle breit und still, er gleicht einem gutmütigen Alten. Oberhalb des Dorfes Argotlingen führt ein teilweise gepflasterter Esels- und Karrenweg durch Wald und zwischen Reben hindurch zur Burg hinauf. Man durchquert das Tor eines begrünten Erdwalls, dann das Tor einer Ringmauer, den Hof der Heerburg, der von Werkstätten, Backhaus, Ställen, Schmiede, Lagerräumen und den Schlafräumen des Gesindes eingerahmt ist, und passiert ein letztes Tor zur Wohnburg. Diese weist verschiedene Wohngebäude vor, die in Hufeisenform um den Hof angeordnet und allesamt in gutem Zustand sind. Von meinem Fenster in einem dieser Wohngebäude aus blicke ich über Tausende sattgrüne Baumkronen hinweg, die sich wie ein grünes Fell vor mir erstrecken.
Meine Ankunft war nicht angekündigt. Die Sitte hätte es geboten, eine Nachricht über mein baldiges Eintreffen vorauszuschicken, aber ich hatte es für besser gehalten, recht schnell und vor
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