Die Suendenburg
abzunehmen.
Wie dem auch sei – das Papier war wie eine Aufforderung. Doch sie allein hätte mich nicht veranlassen können, zu schreiben, wenn es nichts gäbe, worüber ich zu schreiben wüsste.
Ich muss zugeben, dass dies ein seltsamer Ort ist. Zwar hielt ich vorhin fest, dass die Burg freundlich wirkt, wenn man sie vom Tal aus betrachtet, und auch aus der Nähe macht sie einen herausgeputzten Eindruck. Aber ich habe ein ungutes Gefühl, was bei mir selten ist. Es liegt wohl zum Teil an den Leuten hier. Viele wirken mürrisch und verschlossen. Sie sollten froh sein, dass sich ein Vikar des Verbrechens annimmt, das die Burg erschüttert hat, aber sie sind skeptisch und würden wohl lieber einen Teufelsaustreiber als einen Mörderverfolger sehen. Bei meinem Rundgang sprach mich eine Wache an. »Macht die Heidin einen Kopf kürzer«, sagte er. In der Kapelle begegnete ich einem Geistlichen namens Nikolaus. Er ist klein, rundlich und hat ein gemütliches Gesicht. Als ich dort für die Seele meiner verstorbenen Frau betete, kam er zu mir, gab mir eine Phiole und sagte: »Besprengt sie mit Weihwasser, bevor Ihr sie ersauft. Sonst kehrt sie zurück.«
Die Einzigen, von denen ich zunächst dachte, dass sie sich entgegen der allgemeinen Stimmung in der Burg verhalten, waren drei noch junge Rothaarige, Mägde offenbar, die gemeinsam ein Lied anstimmten. Gesang zu hören tat mir gut, und ich lächelte. Dann verstand ich den Text: Die Kehle blutete heiß in tiefen Rissen, und Dämonen wurden befreit. Nun ist gekommen der Richter und Rächer, der den Mord mit Mord vergilt.
Die Neigungen zu Aberglaube und düsterer Prophezeiung sind hier in der Landbevölkerung besonders stark verbreitet, die Vernunft ist abwesend. Unter solchen Bedingungen gedeihen Angst und Schrecken besonders gut, und diese beiden wiederum können bei Menschen alles Mögliche anrichten. Die Sündenburg ist wie eine Arena schlechter Gefühle. Mit dergleichen bin ich in dieser Form noch nie konfrontiert worden. Sehr beeindruckend und wert, festgehalten zu werden.
Bilhildis
Ich habe den Ankömmling bei seinem Rundgang durch die Burg beobachtet. Keiner hat mir dazu Anweisung gegeben, es hat mich schlicht und einfach interessiert, mit wem wir alle es zu tun bekommen. Er ist ein mittelgroßer Mann, noch nicht alt an Jahren, etwa fünfunddreißig, schwarz gekleidet, stattlich, aufmerksam, nicht zu vornehm. Die Gräfin sagte zu mir: »Lade ihn für heute Abend zum Gastmahl ein. Sage auch Elicia und Baldur, sie mögen kommen. Und trage Sorge, dass der Vikar sich wohlfühlt.« Das meiste hatte er schon von Raimund bekommen, also legte ich ihm Schreibzeug auf seinen Tisch, natürlich das beste Papier, ganz anderes als das Lumpenpapier, mit dem ich mich zufriedengeben muss. Und Tinte und Feder statt eines Kohlestifts, der schwarze Hände macht, Hände wie meine, die aussehen, als würden sie verfaulen. Mit diesen Händen schreibe ich, weil es der einzige Weg ist, meine eigene Stimme zu hören. Ich erinnere mich ihres vergangenen Klanges nur beim Schreiben, daher schreibe ich, so viel ich kann.
Nikolaus, der unbedarfte Burggeistliche, sagt, dass Gott mir das Schreiben geschenkt habe. Wenn Nikolaus wüsste, was ich schreibe, würde er nicht solchen Unfug reden. Gottes Wille, Gottes Geschenk. Dann war es vor mehr als fünfundzwanzig Jahren wohl auch Gottes Geschenk gewesen, dass im Krieg zwischen Ostfranken und Westfranken die Bewaffneten der Gegenseite einer schönen jungen Frau namens Bilhildis habhaft werden sollten und dass sie sich, weil ein Hauptmann ihnen deren Schändung untersagte, sich ein anderes Vergnügen mit ihr bereiteten und ihr die Zunge herausschnitten – das nämlich war ihnen nicht verboten worden. War es auch Gottes Geschenk, dass sie sie zwangen, ihre Zunge zu fressen, sodass sie sie verdauen und scheißen musste? Wer weiß, ob nicht Teile davon noch heute in mir sind, auch wenn es Jahrzehnte her ist.
Gott kann mir gestohlen bleiben, und seine Marktschreier ebenso. Im besten Fall halte ich es für möglich, dass Gott so etwas wie ein gleichgültiger Sekretär ist, der jeden Willen niederschreibt, den man ihm vorsagt. Anderenfalls muss ich glauben, dass er Gefallen daran findet, auszuprobieren, wie weit er mit den Menschen gehen kann. Und für seine grausamen Zirkusspiele sollen wir ihn auch noch lieben. Aber nicht mit mir. Und wenn er mir dann mit der Hölle kommt, dann werde ich ihm sagen, dass ich die Hölle schon in- und auswendig kenne
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