Die Suendenburg
bezaubernder, friedlicher Platz die Welt doch sein kann.
Als Aistulf mir half, auf mein Pferd aufzusitzen, sagte er: »Ich staune noch immer, dass du zu einer Entführung fähig warst. Unglaublich. Ich entdecke jeden Tag neue Seiten an dir.«
»Und das missfällt dir?«
Er verbeugte sich höflich lächelnd. »Im Gegenteil, Erlaucht. Ich frage mich nur, wie viele Geheimnisse Ihr noch habt.«
Zwei, dachte ich. Aber ich sagte: »Eines ist noch übrig. Ich bekomme ein Kind von dir.«
Wir, die wir kraft königlicher Gewalt und im Namen Seiner Hoheit des gnädigen Herzogs Burchard von Schwaben das Recht im Herzogtum und dem Reiche vertreten, haben Klage erhalten, dass Agapet, Graf von Breisach, totgeschlagen ward. Der Täter ward nicht handhaft ertappt und ist zu finden. Wir entsenden Malvin von Birnau, Vikar von Konstanz, auf dass er eine Inquisitio durchführen und den Täter, diesen Feind Gottes, des Königs und des Herzogs, finden soll. Er wird nach Ermessen ein Bußverfahren einleiten, das zwischen den Seiten des Opfers und des Täters ein Urteil aushandelt, oder er wird ein Racheverfahren einleiten. In letzterem Fall wird er kraft der Lex Alamannorum Richter sein und zwei Schöffen an seine Seite berufen. Er ist befugt, das Urteil zu verkünden und durchzusetzen. Alle Freien, Halbfreien und Unfreien sind aufgefordert, seinen Anordnungen, die mit der Handhaftwerdung des Täters und dessen Verurteilung zu tun haben, Folge zu leisten.
Gezeichnet in Konstanz, am zwölften Tag des September im Jahre des Herrn neunhundertundzwölf.
Der Schultheiß und Comes von Konstanz
Malvin
Wir schreiben den Tag des heiligen Cornelius, den sechzehnten September im Jahre des Herrn neunhundertundzwölf. Als Vikar der Hohe Vertreter des Gerichtssprengels von Konstanz habe ich die Inquisitio des Mordes an Graf Agapet von Breisach begonnen und bin zu diesem Zweck in der Agapidenburg eingetroffen, die man in Konstanz und andernorts auch wenig schmeichelhaft die Sündenburg nennt. Ich hätte einen Stellvertreter entsenden können, und in Konstanz staunte man nicht schlecht, dass ich mich als Vikar den Mühen einer mehrtägigen Reise unterziehen will, nur begleitet von meinem jungen Gerichtsschreiber Bernhard. Tatsächlich habe ich gezögert. Es sprach mehr gegen eine Abreise als dafür. Meine Kinder sind noch sehr jung, und wenngleich sie von einer sauberen Amme gehütet werden, ist eine Trennung von einigen Wochen nicht vorteilhaft für ihre Entwicklung. Dazu kommt, dass in Konstanz viel Arbeit zu tun ist. Die Misere der letzten Jahre, die von den Überfällen der Ungarn und den Kriegen gegen dieses Volk herrührt, hat mehr Menschen als früher zu Dieben, Räubern und Schlägern gemacht. Der Schultheiß ließ mich nur ungern gehen. Wieder und wieder hat er mich gefragt, wieso ich diese Untersuchung selbst führen will, und wegen meiner ausweichenden Antworten hat er sich wohl gedacht, ich wolle mich beim Herzog von Schwaben verdient machen, indem ich höchstselbst den Mord an einem seiner wichtigsten Grafen – wenn nicht dem wichtigsten Graf – aufkläre. Wenn er dies wirklich vermutete, lag er gar nicht so falsch – und doch irrte er. Ehrgeiz hat tatsächlich damit zu tun, aber er ist von anderer Natur und weit davon entfernt, auf meinen Vorteil abzuzielen.
Die Agapidenburg und ihre Herren haben seit jeher einen desaströsen Ruf im Land. Es ist von einem Fluch die Rede, der auf dem Geschlecht der Agapiden liege und dafür sorge, dass ein jeder von ihnen eines gewaltsamen Todes sterbe – angeblich, weil ihr Stammvater vor zweihundert Jahren ein ruchloses Verbrechen begangen habe. In den letzten Jahren ist dieses Gerede verstummt. Agapet regierte mehr als dreißig Jahre lang seine Grafschaft, und in solch langer Zeit gerät manches in Vergessenheit. Doch mit Gerüchten verhält es sich wie mit Samen – sie können viele Jahre lang ohne Licht und Wasser in einem vergessenen Behältnis herumliegen, aber ein einziger Tropfen und ein Sonnenstrahl können sie zum Leben erwecken. Plötzlich sind sie wieder in aller Munde, die unsterblichen Flüche, die teuflischen Dämonen und die aus dem Grabe steigenden, sich rächenden Toten, die sich der Sündenburg bemächtigt haben.
Was andere abschreckt, das zieht mich an. Jedoch: Nicht Diebstahl, widernatürliche Unzucht, Ehebruch und Gotteslästerung fesseln meine Aufmerksamkeit – dergleichen verhandele und richte ich alle Tage. Morde sind das eigentliche Ereignis. Ihrer hatte ich bisher
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