Die Suendenburg
was das Schönste in meinem Leben gewesen war und was dennoch nie hätte beginnen sollen.
Kara
Der zweite Tag nach dem Fest, das sie Weihnachten nennen. Ich hatte schon von diesem Fest gehört, aber ich habe es mir anders vorgestellt. Es heißt, ein Gott sei an diesem Tag geboren worden. Das muss dann wohl der Kriegsgott gewesen sein oder der Gott der Zwietracht. Wenn wir unsere Götter ehren, trinken und tanzen wir bis zum Umfallen. Hierzulande gehen sie sich an die Gurgel und schlagen sich die Köpfe ein und beharren dennoch darauf, dass mein Glaube der barbarische und ihr Glaube die Frohe Botschaft ist.
Heute war es so weit, auf diese Stunde hatte ich gewartet. Baldur kam in aller Frühe zu mir. Er klopfte an die Tür, und ich öffnete im Wissen, meinen Feind und Peiniger einzulassen. Er trug einen weiten Umhang und Kapuze, damit ihn niemand erkennen konnte, denn es war ihm verboten worden, die Burg zu betreten.
»Es hat geschneit, hast du gesehen? Schneeflocken. Sie rieseln vom Himmel. Schnee nennt man das. Schnee.«
Manchmal, wenn er wieder wie mit einem Vögelchen mit mir spricht, muss ich mir das Lachen verkneifen, weil ich jedes Wort verstehe und er sich zum Narren macht, ohne es zu merken. Doch es tut mir nicht gut, Baldur im Geiste zu belächeln. Er bekommt dann etwas Harmloses, und das will ich nicht.
»Ich habe mir überlegt – das ist das rechte Wetter für einen Ausritt. Du verstehst? Pferd. Reiten. Galopp durch den Schnee. Und vielleicht … kommst du mit mir? Du – mit mir – reiten im Schnee.«
Ich antwortete ihm nicht sofort, und das machte ihm zu schaffen.
»Ich werde dir nichts tun, hörst du? Ganz bestimmt nicht. Ich will einfach nur – ich muss mich ablenken – alles geht schief, und ich dachte … Aber wenn du nicht willst … Da kann man nichts machen. Entschuldige, wenn ich dich gestört habe. Gehab dich wohl.«
Ich hielt ihn mit einer Geste davon ab, zu gehen.
Er strahlte über das ganze Gesicht. »Du kommst mit mir? Hier, ich habe dir einen Umhang wie meinen besorgt, der hält warm und hat außerdem den Vorteil, dass dich niemand darin erkennt. Du darfst die Burg ja eigentlich nicht verlassen. Schon seltsam, oder? Du darfst nicht raus, und ich darf nicht rein.«
Ja, ich ging mit ihm, ich setzte mich hinter ihn auf sein Pferd, ich umklammerte seine Hüfte, und er feuerte seinen Hengst an. In seiner Stimme lag Glück, eines der Art von jungen Burschen, denen etwas gelungen ist. Der Schnee wirbelte auf und spritzte uns ins Gesicht. Ich lachte, was wiederum Baldur zum Lachen brachte. Tatsächlich, ich hörte mich lachen, hörte uns im Gleichklang lachen. Ich fragte mich: Bist das wirklich du? Hör auf damit, es gibt nichts zu lachen.
O doch, ich hatte allen Grund dazu. Nach Monaten des Eingesperrtseins, in denen ich mit ein paar Schritten schon ans Ende der Welt gelangt war, ritt ich durch einen nicht enden wollenden Wald, über Lichtungen und Felder und über einen Hügelkamm, von dem aus die Burg wie eine Zeichnung wirkte. Endlich, endlich sah ich mein Gefängnis von außen, wenn auch nur kurz, bevor es wieder hinter dem Dickicht des Waldes verschwand. Dieser Blick war wie ein Atemzug frischer Luft nach einer Nacht in einem stinkenden Raum. Dazu kamen die angenehme Wärme des Pferdes unter mir, der Geschmack des Schnees auf den Lippen, die allgegenwärtige Weiße, das Geräusch des klirrenden Zaumzeugs und die Berührung solcher einfachen Dinge wie Baumrinden, Tannenzapfen und Sattelleder. Was die Freiheit bedeutet, in welchen Alltäglichkeiten sie steckt, das wurde mir erst klar, als ich sie wiederfand, nachdem ich sie verloren hatte. Berauscht vom Gewöhnlichen, konnte ich für eine Weile alles vergessen, sogar den Mann, mit dem ich lachte.
Doch nicht für lange. Ich war nicht nur seit vielen Monden die Gefangene eines Burgherrn, ich war auch die Gefangene meines eigenen Körpers, seit Baldur ihn geschändet hatte. Alles Wasser der Welt würde mich nicht sauber waschen können, alle Zeit würde nicht verblassen lassen, womit ich befleckt worden war. Andere Menschen konnten nicht sehen, was mir jeden Tag, bei jedem Aufwachen und Einschlafen, bei jeder Berührung meines eigenen Körpers vor Augen stehen würde. Es war ein absonderlicher Hohn, dass mich ausgerechnet der Mann, der mich für ein paar Stunden aus der Burg befreite, in die Gefangenschaft meines Körpers geschickt hatte.
Als das Pferd Ruhe brauchte, stiegen wir ab. Wir befanden uns an einer besonders schönen
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