Die Suendenburg
noch – Gott vergebe mir – meine Kinder sind das Element, das meine Existenz auszufüllen vermag. Alles das ist mir nahe, sogar sehr nahe, es umrandet mein Leben und liefert mir gerade so viel Stärke, dass ich als Mensch und Gottes Diener, als Vikar und Vater funktioniere. Doch im Grunde lebte ich nicht, bis ich Elicia traf. Ich erledigte. Ich erfüllte die gestellten Aufgaben. Ich ging ins Gericht, fällte Urteile, ich liebte meine Kinder, ich bewahrte meiner verstorbenen Gattin das Andenken, ich hörte die Messe, und alles dies tat ich mit Neigung und aus Überzeugung. Allein, es brachte keine Fülle in mein Leben. Wäre ich Elicia nicht begegnet, so hätte ich einfach so weitermachen können, doch nun, da es anders gekommen ist, kann ich nicht einfach so zu dem alten Zustand zurückkehren. Wenn man weiß, dass es einen Himmel gibt, betet man um Einlass, und wenn man weiß, dass es einen Himmel auf Erden gibt, so will man ihn, sobald man einen Blick davon erhascht hat, erobern.
Wie sehr habe ich in den Wochen vor Weihnachten mit mir gerungen, ob ich das vor Gott Aufrichtige tun sollte oder das Richtige für mich. Aus lauter Unvermögen, zu einer Entscheidung zu kommen, habe ich die Zeit verstreichen lassen – insgeheim hoffend, es gäbe keine, und insgeheim wissend, sie verstreicht. Ich wusste, dass viel Arbeit in Konstanz liegenblieb, dass die Angeklagten bis zu meiner Rückkehr in Kerkern schmachteten, die sich zunehmend füllten, dass die Ungeduld der Kläger täglich wuchs und dass das Recht verharrte, während das Unrecht seinen üblichen Lauf nahm. Trotzdem schaffte ich es, fast nie daran zu denken, und wenn doch, trat ich den Gedanken aus wie eine gefährliche Flamme im Schober.
Elicia führte mir am Weihnachtstag stolz ihre neue Tür vor, die sich von innen verriegeln ließ, was vorher nicht möglich gewesen war. Sie wusste noch nichts von den schlechten Neuigkeiten, denn ich hatte ihr das Fest nicht verderben wollen – das hatten dann andere getan.
»Türen kann man aufbrechen, Elicia. Wenn es wahr ist, was Baldur und du gestern auf dem Fest behauptet habt, dann …«
»Hast du Zweifel daran?«
»Kannst du sie mir nehmen?«
»Siehst du, deswegen kam ich damit nicht zu dir. Was ich weiß, weiß ich von Bilhildis.«
»Vertraust du ihr?«
»Ich habe keinen Grund, ihr nicht zu trauen. Du vielleicht?«
Ich dachte an ihr jahrelanges Verhältnis zu Elicias Vater. »Du verklärst sie, weil sie deine Amme ist. Ich denke, sie hat ihre Geheimnisse.«
»Die hat sogar der Papst. Außerdem ergänzen ihre Beobachtungen lediglich meine eigenen. Stellst du diese ebenfalls infrage?«
»Nein. Aber mir sind die Hände gebunden. Ich kann doch nicht einfach aufgrund der Aussage einer verbitterten Leibeigenen …«
»In deiner Welt muss alles nach Formeln und Regeln ablaufen, Malvin. Im Grunde verstehe ich das. Aber hier kommen wir damit nicht mehr weiter. Ich kann nicht beweisen, was ich weiß, dass nämlich Aistulf mir ans Leben wollte, und du kannst nicht beweisen, dass er meinen Vater umgebracht hat. Die Gerechtigkeit lässt sich nicht immer mit dem Recht herstellen. Ich muss mir selbst helfen.«
»Indem du hierbleibst und dich umbringen lässt?«
Sie lächelte. »Baldur hat sich täppisch verhalten, aber eines ist durch das Aufsehen erreicht worden: Aistulf kann es sich von nun an nicht mehr leisten, mich umzubringen, da er vor aller Welt beschuldigt wurde, ebendies zu versuchen. Ihm muss daran gelegen sein, dass ich lebe – zumindest vorläufig.«
»Das ist mutig von dir, Elicia, und sehr leichtsinnig.«
»Ohne andere Möglichkeit ist es keines von beiden. Ich wüsste nicht, was ich sonst tun sollte, Malvin. Baldur schläft in der Scheune, tiefer kann man kaum sinken. Und ich soll zu einer Flüchtigen werden, die ihren Gemahl im Stich lässt? Ich bleibe hier, und solange du bei mir bist …«
Das war der Moment, wo ich ihr den Brief des Konstanzer Schultheißen zeigte. Nachdem sie ihn gelesen hatte, faltete sie ihn zusammen und gab ihn mir zurück, ohne mich anzusehen.
»Wann?«, fragte sie.
»Morgen.«
Da brach sie in Tränen aus. Ich wollte sie in den Arm nehmen, aber sie entzog sich mir. Sie hatte recht: Sie war weder mutig noch leichtsinnig, sie war verzweifelt, und es brach mir das Herz, neben ihr zu stehen und nichts tun zu können. Außer …
»Komm mit mir«, sagte ich.
Meine Worte hallten in mir nach. Immer wieder sagte ich: Komm mit mir, komm mit mir, komm mit mir. Doch so, wie ich
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