Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
hat? Sie war nur noch ein Haufen verwesten Fleisches. Wie eine dieser ägyptischen Mumien, nur dass sie vor Schlamm triefte. Mein Gott, ihr Haar und ihr Skalp sind von ihrem Schädel gerutscht, als die Polizisten ihre Leiche ausgegraben haben. Die ganze Sache war eine furchtbar widerliche, abstoßende Angelegenheit.«
Aber was ist mit den Nachbarn? Wie haben sie reagiert, als sie die entsetzliche Neuigkeit erfuhren? Und hatten sie ihren neuen Nachbarn vielleicht ohnehin schon im Verdacht, etwas im Schilde zu führen?
»Ich wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als ich hörte, was passiert ist«, zeigt sich die in Irland geborene Mrs. Fiddymont aus dem Haus in der Andrew Street 59 noch immer schockiert. »Mein lieber Owen musste mich auffangen, als ich umkippte. Ich habe in meinem ganzen Leben noch niemals etwas so Grauenhaftes gehört.« Wenn Mrs. Fiddymont am Küchentisch in ihrem Holzhaus mit den vier Zimmern sitzt, sieht sie aus wie die typische Großmutter. Sie hat ein freundliches Gesicht, auch wenn sich, während sie mir von ihren Erinnerungen berichtet, ein verstörter Ausdruck darauf legt.
»Ich habe Mr. Drewn nur ein paarmal getroffen, seine Frau sogar noch seltener. Sie blieb die meiste Zeit für sich. Ich bin ihr nur ein einziges Mal begegnet, kurz nachdem sie eingezogen waren. Ich war hinter dem Haus und habe Wäsche aufgehängt, als sie in den Garten schlenderte. Der Zaun zwischen den beiden Grundstücken ist nicht sehr hoch, deshalb konnte ich das arme Mädchen gut sehen. Sie wirkte traurig auf mich. Sie wirkte nicht aufgewühlt oder hat geweint, das meine ich nicht, aber sie sah sehr einsam und verlassen aus. Ich musste sie mehrmals rufen, bevor sie sich zu mir umgedreht hat. Sie wirkte wie in ihrer ganz eigenen Welt verloren. Wie dem auch sei, ich habe mich vorgestellt und sie gefragt, ob sie vielleicht auf ein Glas Limonade zu mir herüberkommen möchte – an jenem Tag war es heißer als im Ofen des Teufels. Sie schien durch die Einladung vollkommen verstört zu sein, so als wisse sie nicht genau, wie sie darauf reagieren solle. Bevor sie antworten konnte, erschien Mr. Drewn in der Hintertür und rief sie zu sich hinein. Das war das letzte Mal, dass ich das arme Kind lebendig gesehen habe.«
Aber was ist mit Deeming oder – wie sie ihn kannte – Mr. Drewn? »Ich hätte nie und nimmer vermutet, dass dieser groß gewachsene, schneidige englische Gentleman zu einer solch grauenvollen Tat fähig ist«, antwortet Mrs. Fiddymont mit einem tiefen Seufzer. »Er war immer so makellos gekleidet und so höflich. Aber ich muss auch sagen, dass ich bei mehr als einer Gelegenheit nebenan einen Streit gehört habe. Es schien mir nie um etwas Wichtiges zu gehen, nur die üblichen ehelichen Unstimmigkeiten. Aber trotzdem erinnere ich mich, dass Mr. Drewn mehrfach Bemerkungen über seine Mutter machte, so als lebe sie zusammen mit den beiden im Haus, obwohl ich nie eine ältere Dame auf dem Grundstück oder in der Nähe gesehen habe. Das gab mir schon ein etwas ungutes Gefühl.«
Eine weitere Nachbarin, die Waschfrau Louisa Atkinson, wohnhaft in der Andrew Street 60, hörte das Ehepaar ebenfalls streiten. Sie war vermutlich auch die letzte Person, die Emily Williams, geborene Mather, lebend zu Gesicht bekommen hat. »Ich ging so gegen 19 Uhr am Weihnachtsabend an ihrem Haus vorbei und habe Mr. und Mrs. Drewn lauthals debattieren gehört. Ich habe angehalten und gelauscht – immerhin waren sie ja neu in der Nachbarschaft und da ist man natürlich neugierig. Nachdem ich ihre Auseinandersetzung ein paar Minuten lang mit angehört hatte, hörte ich einen Knall. Kurz darauf kam Mrs. Drewn durch die Hintertür, eilte die Straße hinunter und den kleinen Nebenpfad entlang. Sie wirkte ausgesprochen nervös. Ich sagte Emily, es wäre vielleicht besser, wenn sie diesen Ort für eine Weile verlassen würde, aber sie lächelte nur und sagte, es werde schon bald alles wieder gut werden. Ich konnte sehen, dass sie Angst hatte, aber ich dachte, die Sache gehe mich nichts an, also habe ich sie nicht weiter bedrängt. Ich habe Mrs. Drewn dann noch nachgeschaut, als sie wieder ins Haus zurückgegangen ist. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.«
Weiß Louisa, worüber die beiden sich gestritten haben? »Es hatte irgendwas mit einem Brief zu tun, so viel weiß ich. Und mit einer Frau namens Kelly. Ich glaube, Mrs. Drewn glaubte, ihr Mann habe eine Affäre mit einer Frau namens Kelly oder so was in der Art. Ich habe
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