Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
hätte, sondern weil ich morgen nach Hause gehe und Wilson immer noch hier sein und dem nächsten Stück Frischfleisch sämtliche Kippen abnehmen wird.
Ich springe aus dem Bett, ich muss pinkeln. Während der Strahl aus mir herausplätschert, drehe ich mich um und schaue aus dem Fenster, aber ich sehe nichts als graue Dunkelheit durch die Gitterstäbe. Ich denke an all die Male, die ich durch die Luke geschaut habe, und eine Träne tropft von meinem Gesicht in die Kloschüssel. Ich werde dieses Fenster vermissen, diese Gitterstäbe, meine einzigen Kameraden in dieser dunklen Zeit. Sie waren bei mir, als ich nach Rio geflogen bin und mit all den Mädchen getanzt habe, und auch, als ich mir in Griechenland ein Bier schmecken ließ, während die Jachten an mir vorübersegelten, um mich herum nichts als Weiß. Sie waren bei mir, als ich nach Florida getrampt und durch Nevada gefahren bin. Sie waren da, als ich meine Pulsadern mit einem scharf geschliffenen Stift aufgeschlitzt habe. Und sie waren ganz sicher auch bei mir, um über mich zu wachen, während ich endlose Tränen vergoss.
Ich bin fertig mit Pinkeln und packe mein bestes Stück wieder ein. Als ich auf den kalten Boden blicke, frage ich mich, wohin all die Tränen verschwunden sind, die ich vergossen habe. Ich stelle mir einen unterirdischen Fluss aus all den Tränen, all dem Blut und all dem Sperma der Männer vor, die diese Hölle irgendwann ihr Zuhause nannten – und dann stelle ich mir vor, wie ich mich hineinfallen lasse und davontreibe.
Und dann lache ich doch noch, kurz und keuchend. Warum taucht solch ein Gedanke in meinem Kopf auf? Ich bin nicht länger in diesen Mauern gefangen. Wenn der Morgen kommt, werde ich frei sein, ich brauche keinen schmutzigen Fluss. Das ist der Gedanke eines zum Scheitern verurteilten Mannes, nicht der eines freien Mannes.
Also klettere ich wieder in mein Bett, während schöne Vorstellungen vom nächsten Morgen durch meinen Kopf schwirren, und wie durch ein Wunder schlafe ich ein.
Als ich das nächste Mal erwache, ist der Block eingeschlafen. Es scheint, als sei ich zu dieser unchristlichen Zeit als Einziger wach. Aber wie spät ist es? Der Raum liegt noch immer in derselben tiefschwarzen Dunkelheit wie zuvor und ich habe das Gefühl, dass kaum Zeit vergangen ist. Ich setze mich auf, stelle meine rissigen Füße auf den Steinboden und schlendere ans Ende meiner Welt.
Ich klammere mich an den dicken Gitterstäben fest, starre zur Uhr hinauf und ihr rundes, wachsames Gesicht zwinkert mir zu. Eine Stunde nach Mitternacht, verrät sie mir. Noch fünf Stunden bis zum »Aufstehen, ihr Schwachköpfe!« Ich habe das Gefühl, dass es schon viel später sein müsste, und schlurfe wieder zu meinem Bett zurück, um den Rest der Nacht durchzuschlafen.
Aber der Schlaf kommt jetzt nicht mehr so schnell. Mein Mund ist trocken, ich habe Bauchschmerzen und ich wünsche mir so sehr, es wäre bereits morgen, dass mir der Kopf wehtut. Ich gehe zum Waschbecken hinüber und spüle mir den Mund aus, stoße einen tiefen Seufzer aus, gehe wieder zu meinem Bett zurück und setze mich darauf. Ich lege mich nicht hin, sondern vergrabe das Gesicht in meinen schwieligen Händen.
Warum kommt es mir so vor, als sei ausgerechnet diese Nacht die längste von allen? Warum werde ich nicht einfach vom Schlaf übermannt und wache erst wieder auf, wenn die Morgenröte sich in all ihrer Schönheit zeigt? Ich sterbe, wenn ich die ganze Nacht hier in der Finsternis sitzen und auf ihr Ende warten muss. Ganz gewiss wäre nicht einmal der Teufel persönlich so grausam.
Ich habe schon zu viel Zeit an diesem verdammten Ort verbracht. Vielleicht, denke ich, und dabei verkrampft sich mein Magen, wird er mich nicht so einfach freigeben. Vielleicht gehört man umso mehr hierher, je länger man hier gewesen ist – und je mehr du ihm gehörst, desto mehr von deinem Fleisch, deinem Blut und deinen Tränen nimmt er sich.
Ich zittere. Irgendwo, nicht hier, höre ich einen Hund bellen. Ich brauche Schlaf, Schlaf und ein Glas kaltes Bier und eine Frau, die ohnmächtig daliegt, auf dem …
Ich verpasse mir eine Ohrfeige, ein heftiger, stechender Schlag. Während ich kalte Tränen wegblinzele, weiß ich, dass es dieser Ort ist, der meinen Kopf mit bösen Gedanken füllt. Ich bin es nicht, ich kann es nicht sein, es …
»… bist schon immer du gewesen«, sagt eine tiefe, finstere Stimme.
Ich schnappe nach Luft und mein Kopf wirbelt herum und starrt auf das Ende meiner
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