Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
Besuch abstatten:
http://saucyjacky.wordpress.com/
Ungeborene Leben
(Unborn Lives)
»Warum machen sie das? Wir haben nichts Unrechtes getan!«
Da stimmst du ihr zu, aber trotzdem wünschst du dir, die Frau würde endlich die Klappe halten. Ihr Atem stinkt nach alten Zigaretten. Obwohl du daran eigentlich gewöhnt sein solltest, verursacht das bei dir noch mehr Übelkeit als die stinkende Luft, die durch die winzigen Löcher, die die Dunkelheit durchbohren, zu dir hereindringt.
Du weißt nur, dass du dich irgendwo in einem Wald befindest und mit dem Gesicht nach unten in einer Kiste liegst. Du hörst keine Geräusche von Tieren, nur hin und wieder den Gesang der unsichtbaren Massen dort draußen und das ständige Gejammer der Fremden neben dir, die du vor einer Weile nach ihrem Namen gefragt hast. Ihre Antwort lautete: »Was spielen Namen in einem Moment wie diesem schon für eine Rolle?«
Wie du hierhergekommen bist, ist dir ein Rätsel. Du kannst dich nicht mehr daran erinnern, was du gerade gemacht hast, als du entführt wurdest, aber alles andere weißt du noch genau: Du kamst in Melbourne, Australien, zur Welt. Du hast eine Frau und zwei Kinder. Und du arbeitest bei einem Software-Unternehmen – auch wenn du jetzt das Gefühl hast, dein Leben gar nicht wirklich gelebt zu haben. Es fühlt sich eher an wie ein Film im Schnelldurchlauf.
Mit einem Ruck fängt die Kiste an sich zu bewegen. Sie klettert langsam höher. So wie eine Achterbahn, die ihre Auffahrt zum höchsten Punkt beginnt.
Die Frau stößt einen Schrei aus, laut und durchdringend. »Ohmeingottwaspassiertmituns?«
Du lauschst, wie sie versucht, sich zu befreien, aber du weißt, dass das unmöglich ist. Die Kiste lässt keinen großen Bewegungsspielraum.
Die Frau gibt schon bald wieder auf. Sie fängt erneut an zu schluchzen und die inzwischen schon vertrauten Sätze zu wiederholen: »Warum tun sie das?«, und »Ich habe doch nichts Unrechtes getan!« Aber diesmal fügt sie noch hinzu: »… oder doch?«
Ist das eine Strafe?, fragst du dich.
Aber auch du hast nichts Unrechtes getan.
Jedenfalls nichts, woran du dich erinnern könntest.
Und dann sagt eine seltsame Stimme:
Ihr werdet nichts Unrechtes tun. Jetzt nicht mehr.
Du wirfst einen Blick durch das Loch, das deinen Augen am nächsten ist, siehst, wie der Wald langsam an dir vorüberzieht, und erhaschst einen Blick auf die dunklen Gestalten unter dir.
Es sind ungefähr 50, sie tragen alle schwarze Kleidung und leiern irgendeinen Sermon herunter. Du kannst ihre Gesichter nicht sehen, und obwohl du all diese Stimmen hörst, die im Wald widerhallen, verstehst du nicht, was sie sagen.
Die Frau schluchzt: »Ich habe einen Mann. Ich bin erst 38. Ich habe doch noch gar nicht richtig gelebt. Mein Gott, ich brauche dringend eine Zigarette.«
Sie ist genauso alt wie du, und diese Tatsache jagt dir Angst ein, auch wenn du nicht mit Sicherheit sagen kannst, warum. Genau wie sie sehnst du dich nach einer Zigarette.
In der Kiste wird es immer heißer und als die Stämme der Kiefern in die Baumkronen übergehen, verlierst du die Gestalten unter dir aus den Augen. Aber vorher siehst du noch, wie eine von ihnen zu dir nach oben blickt und du erkennst ein weißes, skelettartiges Gesicht, das dich angrinst.
Die Bilder verfolgen dich weiter in deinem Kopf, selbst als du deine Augen schließt. Du wirst das Bild dieses Gesichts nicht mehr los – es ist dir auf unheimliche Weise vertraut – und als ein Licht in deine Welt eindringt, öffnest du deine Augen wieder und siehst, dass ein leuchtendes, pulsierendes Orange durch die Löcher hereinscheint. Dann dreht sich die Frau zu dir um und sagt mit matter Stimme: »Da ist ein Feuer.« Sie blinzelt nicht. »Ein riesiger Ofen. Wir bewegen uns direkt darauf zu.«
»Was haben wir nur verbrochen?«, schreist du. »Wieso tun sie uns das an? Wir haben nichts Unrechtes getan!«
Aber das hättet ihr, sagt die Stimme. Wir halten euch nur auf, bevor ihr Schaden anrichten konntet.
Ein weiterer Ruck. Du spürst, dass die Kiste sich dreht.
Du wagst es hinauszublicken.
Was dich am meisten schockiert, ist die gewaltige Anzahl der Kisten, die deiner auf dem Förderband folgen. Ein scheinbar endloses Meer aus braunen Behältern mit glatter Oberfläche, allesamt von winzigen Löchern übersät. Sie sehen aus wie Schweizer Käse aus Schokolade und in allen befinden sich vermutlich weitere Menschen.
Als die Flammen näher kommen und die Hitze noch intensiver wird,
Weitere Kostenlose Bücher