Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
ist der Grund für diesen Riss? Wer hat diese Kerbe geritzt? Hat der vorherige Bewohner geweint oder gelacht oder ist er gestorben, als er diese Rille schnitzte?
Lange Tage und noch längere Nächte habe ich hier gelegen und von der Vergangenheit geträumt, habe mir die Männer vorgestellt, die vor mir hier waren: ihre Geschichte, ihre Taten, ihre Persönlichkeit. Ich habe mich mit diesen erfundenen Personen unterhalten und manchmal kam es mir so vor, als seien sie realer als jeder der Männer, die hier mit mir eingesperrt sind. Realer als jeder, den ich draußen gekannt habe. Ich werde traurig sein, wenn ich sie verlassen muss, aber es ist nun einmal an der Zeit, Abschied zu nehmen – falls die Zeit sich nicht doch zum Stillstehen entschlossen hat.
Ich wende mich von der Wand ab und frage mich erneut, ob ich auf den Kreislauf des Lebens hinausschauen soll. Um nachzusehen, ob er mir wohlgesinnt ist oder nicht.
Oder ist dieses Spiel zu grausam?
Ja, entscheide ich, schließe wieder die Augen und versuche, in den Schlaf zu gleiten. Denn wenn es mir gelingt, wird mich das nächste Mal, wenn ich erwache, bestimmt der Morgen begrüßen und ich werde endlich frei sein.
Der Schlaf kommt, die Träume kommen. Ich träume von einem ungeborenen Baby, das zusammengerollt im Bauch seiner Mutter liegt. Allerdings besteht der Mutterleib aus dicken, schweren Gitterstäben und statt einer Nabelschnur ist da eine lange Nadel, die den Fötus mit Blut, irgendeiner milchigen Substanz und klarem Salzwasser versorgt. Das Baby schläft, lächelt, nuckelt an seinem Daumen und wächst, während ich es beobachte. Es wächst zu einem Neugeborenen heran, dann zu einem Kleinkind, aber damit hört es nicht auf.
Ich schreie das Kleinkind an, dass es aufwachen, die Stäbe durchbrechen und den Mutterleib verlassen soll – es ist schon viel zu groß für den Bauch der Mutter –, aber es beachtet meine Rufe nicht. Es wächst immer weiter, wird fünf Jahre alt, dann zehn, und ich sehe, wie sich der Mutterleib weitet und aufbläht. Ich schreie, weine, und trotzdem scheint das Kind seine Umgebung gar nicht wahrzunehmen. Es nuckelt weiter am Daumen und wird noch immer durch das Blut und die Milchmischung seiner Mutter ernährt. Es wächst weiter, wird ein Teenager, ein junger Erwachsener. Die Stäbe zerbrechen.
Dann höre ich, wie Fleisch und Muskeln reißen, und als es bereits in den Dreißigern ist, öffnet es die Augen, dreht sich zu mir, starrt mich an und lächelt. Danach sehe ich eine heftige Explosion aus Eingeweiden und Gewebe und Blut. Ich wache auf, schreiend, schwitzend, mit wild pochendem Herzen. Ich höre auf zu schreien, als mir bewusst wird, dass alles nur ein Traum war, aber ich höre das Echo meines Schreies noch lange, nachdem ich verstummt bin.
Es ist noch immer dunkel im Raum und ich bin überzeugt davon, dass die Nacht niemals enden wird, dass etwas mit der Welt nicht stimmt. Vielleicht sitzt die Nacht ja fest und kann sich nicht mehr vorwärtsbewegen, damit der Tag ihren Platz einnimmt. Oder vielleicht ist Gott auch am Steuer eingeschlafen oder – noch schlimmer: während der Nacht gestorben.
Ich stampfe mit den Füßen auf und lege die drei Schritte bis zu den Gitterstäben zurück. Ich will es sehen, ich muss es sehen. Ich schließe meine Augen, nehme an, dass es mindestens drei Uhr sein muss. Mit drei Uhr könnte ich leben, dann wären es nur noch drei Stunden bis zum bekannten »Aufstehen, ihr Schwachköpfe!« Damit könnte ich umgehen, ja, das wäre in Ordnung.
Mit einem Flattern öffnen sich meine Augen. Ich schlucke meine Angst herunter, blicke zu der strahlend weißen Uhr hinauf und spüre, wie mein Herz zerbricht. »Nein, nein, das kann nicht sein. Das kann nicht sein!«
Die Uhr erlaubt sich einen Scherz mit mir, sie spielt mit mir. Das muss es sein, denn es sind doch ganz sicher schon mehr als fünf Minuten vergangen, seit ich mit meinen roten, verschwommenen Augen zuletzt auf das Zifferblatt geschaut habe. Der lange Zeiger muss mehr als nur fünf lächerliche Minuten gewandert sein. Ich blinzele, weil ich denke, dass ich es bestimmt nicht richtig gesehen habe, dass die Schatten meine Augen in die Irre geführt haben. Ich weiß, dass es fünf nach drei sein muss, nicht fünf nach eins, nein, das kann nicht sein. Ich sehe noch einmal hin und jetzt ist es vier nach eins. Ich schreie. »Wache! Wache! Die Uhr ist kaputt! Die Uhr ist kaputt! Repariert sie wieder, ihr Mistkerle!«
Ich horche, aber niemand antwortet.
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