Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)

erkennst du, dass an der Seite der Kiste, die deiner am nächsten ist, etwas in roter Schrift aufgedruckt ist: 24, Feuer, Unfall, Anzahl der Todesopfer: 5. Auf der Kiste dahinter: 17, Feuer, Vorsatz, Anzahl der Todesopfer: 16.
    In kleinerer Schrift steht darunter jeweils dasselbe: Auf Befehl der Agentur zur Prävention von Todesfällen – behördlich zugelassen durch die Organisation für Weltfrieden.
    Was in Gottes Namen ist die Organisation für Weltfrieden?, fragst du dich.
    Und wessen Tod verhindert sie?
    Ganz sicher nicht deinen.
    Dein Blickfeld erweitert sich und du siehst noch andere Förderbänder – Hunderte, über die gesamte Landschaft verteilt, kreuzen einander im Zickzack und schlängeln sich zwischen den statuenhaften Kiefern hindurch. Tausende von Kisten rollen durch den Wald und hin und wieder kannst du einige der Schilder entziffern: Serienmörder, »Unfälle« mit Kraftfahrzeugen, Bandenschießereien . Du fühlst dich, als hätte man dir in den Magen geschlagen, und dir wird übel, während du stumm beobachtest, wie die Kisten gruppenweise von übergroßen Schwertern durchtrennt, von kraftvollen hydraulischen Armen ineinander gerammt oder mit allen erdenklichen Waffen beschossen werden.
    Du entziehst dich dem grauenvollen Anblick. Dein Blick fällt auf ein großes Schild über deinem eigenen Laufband, kurz bevor alles um dich herum in Orange getaucht wird. Darauf steht: Todesfälle in Verbindung mit Feuer: Unfälle & Vorsatz.
    Die Frau stößt einen markerschütternden Schrei aus. Du hast noch nie den Geruch von verbrennendem Fleisch wahrgenommen – du hattest nie die Gelegenheit dazu – und es ist schlimmer als alles, was du je gerochen hast oder noch gerochen hättest.
    Du schließt deine Augen in der Hoffnung, deinen Geist so vor dem Grauen beschützen zu können, aber du siehst das Schreckgespenst des grinsenden Skeletts vor dir. Allerdings ist es jetzt von einem roten Glühen umgeben, das seinen Augen einen dämonischen Glanz verleiht. Das einzige Geräusch, das die Frau jetzt noch von sich gibt, ist das Brutzeln ihres Fleisches.
    Das Skelett lächelt und sagt, ohne seinen verfaulten Mund dabei zu bewegen:
    Immer zwei und zwei, genau wie auf der Arche.
    Die Strafe entspricht dem Verbrechen.
    Welchem Verbrechen?, schreist du innerlich.
    Dem Verbrechen, das du begangen hättest, wenn du geboren worden wärst.
    Aber ich erinnere mich an mein Leben – an meine Frau und meinen Job!
    Zukünftige Ereignisse, die in deinen Geist projiziert wurden. Wir wollten dir zeigen, was gewesen wäre, das Leben, das du gelebt hättest. Zumindest das hast du verdient.
    Als du die lodernden Flammen bereits spürst, gibst du einen Tipp ab, was wohl auf deiner Kiste steht: 38, Feuer, Unfall – ganz sicher nicht Vorsatz –, Anzahl der Todesopfer: 4 .
    Du hast das Gefühl, dass du deine Frau und deine Kinder vermissen wirst.
    Aber du wirst nie die Gelegenheit erhalten, es herauszufinden.
    NOTIZEN ZUR ENTSTEHUNG:
    Das ist einer meiner wenigen Ausflüge in die Welt der Science Fiction, zu dem ich mich von einigen eher sozialkritischen Dystopien wie Flucht ins 23. Jahrhundert oder Minority Report inspirieren ließ. Genau wie diesen Geschichten liegt auch Ungeborene Leben eine Angst vor der Technologie zugrunde – genauer gesagt: eine Angst vor dem Missbrauch dieser Technologie (auch durch die Regierung). Es ist eine Angst, die mir grundsätzlich zu schaffen macht – nicht nur, weil wir uns viel zu sehr auf Technik verlassen, sondern weil ich mir ernsthaft Sorgen mache, dass sie eines Tages unser Leben so sehr bestimmt, dass sie sich zu einer echten Gefahr für unser Wohlbefinden und sogar für unsere persönliche Freiheit entwickelt.

Wenn der Morgen kommt
    (Come Morning)
    … Ich werde frei sein. Frei, die Sonne zu spüren, ohne eine Mauer aus Beton um mich herum. Frei, um hinzulaufen, wohin ich will, wann ich will, wie ich will.
    Aber zuerst die Nacht.
    15 quälend lange Jahre musste ich mich in diesem Raum verkriechen, mein Leben eine Routine aus Schlafen, Duschen, Essen, Scheißen, Spielen – aber nicht allzu vielen Spielen – Ausruhen, Essen, Schlafen …
    15 Jahre lang habe ich auf die Zukunft gewartet und jetzt läuft es alles hierauf hinaus. Auf diese eine Nacht.
    Eine Nacht, die, wenn sie erst vorbei ist, meiner Last ein Ende bereitet und den Beginn meines Lebens einläutet.
    Eine Nacht.
    Für zwei Liebende, die sich am nächsten Morgen trennen müssen, fühlt sich eine Nacht wie ein Wimpernschlag an,