Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
schmerzhaft in ihrer Kürze. Aber für ein Kind, das auf den Weihnachtsmorgen wartet, das nicht einschlafen kann, scheint sich die Nacht bis in alle Ewigkeit hinzuziehen.
Eine Nacht – und dann werde ich frei sein. Werde meine Kleider zusammensuchen, all meine Habseligkeiten, mich von dem erdrückenden Lärm verabschieden können, von der noch erdrückenderen Stille, der Gewalt und dem Wahnsinn, dem miesen Essen, den miesen Wachen, dem Weinen. Verbannt in eine Kapsel im hintersten Winkel meines Gedächtnisses wird all dies mit jedem Tag weiter verblassen, bis die Erinnerungen nur noch den Hauch eines Flüsterns hinterlassen und die langen Jahre wie ein einziger Augenblick erscheinen werden.
Aber zuerst die Nacht.
Licht aus – wie in jeder anderen Nacht. Aber die heutige Nacht ist nicht wie alle anderen zuvor, denn morgen werde ich duschen, vielleicht scheißen, aber nicht essen, nicht spielen. Oder zumindest nicht so, wie sie es mir vorschreiben. Nein, morgen werde ich Pfannkuchen essen oder Spiegeleier. Eine Tasse Kaffee, der Herr? Gebratenen Speck, Waffeln und frisches Obst, bitte. Und ich werde spielen, oh ja, ich werde spielen, aber nicht auf dem Beton wie all die anderen eingesperrten Hunde – Beinchen heben, Stöckchen holen, verfolgt von den Augen auf den Wachtürmen. Ich werde spielen, aber auf einer weichen Matratze mit einer weichen Frau – oder einer harten. Je nachdem, welche ich mir leisten kann.
Ich muss also nur noch eine Nacht überstehen, bevor ich in das Licht hinaustreten kann. Aber eine Nacht kann lang sein, sie kann einsam sein und zu viele Gedanken können in zu vielen Köpfen herumschwirren. Auch wenn ich mich nach der Morgendämmerung sehne, wird diese Nacht eine harte Nacht werden, die härteste von allen.
Ich liege in meinem Bett wie ein braver, gehorsamer Junge und versuche die Schreie auszublenden, das Schlagen, das Stöhnen, indem ich dem Pochen meines Herzen lausche, meiner Atmung. Ich starre in die Dunkelheit hinaus, auf die Gitterstäbe, die mein Leben seit 15 Jahren durchkreuzen, warte darauf, dass der Schlaf mich übermannt, weil ich weiß, dass die Nacht wie ein Vogel an meinem Fenster vorbeiziehen wird, wenn das passiert. Ich werde aufwachen und die Dunkelheit wird sich in Licht verwandelt haben. Dann werden sie kommen, um mich zu holen, und ich werde frei sein.
Frei.
So ein kleines Wort, aber es erfasst all den Kummer und die Freude sämtlicher Männer, Frauen und Kinder auf der ganzen Welt.
Ich bin nicht müde, ich bin viel zu aufgeregt, aber ich schließe trotzdem die Augen und denke daran, wie das Leben sein wird, wenn ich dieses Gefängnis verlassen habe.
Ich sehe Bäume, die ihre Äste ausbreiten, und lange, rissige Straßen, die irgendwo hin, überall hin führen. Ich sehe lange Nächte in Bars, verruchte Frauen, glasige Augen und gute Zeiten. Ich sehe ein Mädchen, das auf dem Boden liegt, ihr Höschen zerrissen, ihr zartes Fleisch entblößt …
Ich reiße die Augen auf.
Ich runzele die Stirn.
Ich kann an solche Dinge nicht denken. Das darf ich nicht. Das soll ich nicht. Ich bin geheilt, ich habe meine Zeit abgesessen, ich sollte nicht mehr an Fleisch und Sex und Gewalt denken. Ich habe diese Dinge in einer anderen Zeit zurückgelassen. Ich war damals ein anderer Mensch. Ich hatte 15 Jahre Zeit, um aus meiner Haut zu schlüpfen. Es geht mir jetzt viel besser.
Erneut schließe ich die Augen und stelle mir die einfachen, vergnüglichen Dinge vor: lange aufbleiben und mir die Late-Night-Show anschauen; in meinen Wagen steigen und einfach durch die Gegend fahren; meine Mum anrufen bei Tag oder Nacht. Das sind die Dinge, an die ich denken sollte.
Kurze Zeit später schlafe ich ein.
Als ich wieder aufwache, liegt der Raum noch immer in finsterer Nacht. Im Block ist es jetzt ruhiger geworden, nur vereinzelte Schreie oder ein knappes Lachen unterbrechen die Stille. Wahrscheinlich Wilson drei Türen weiter. Sitzt wegen Mordes, ist völlig durchgeknallt. Aber er ist nicht verrückt. Ich erinnere mich noch daran, wie er mich in eine Ecke drängte, als ich hier ankam, vor vielen, vielen Nächten. Wie er mir versprach, er würde mich nur einmal vergewaltigen, wenn ich ihm all meine Kippen gebe. Tja, ich habe ihm meinen kompletten Vorrat an Kippen gegeben und er hat mich vergewaltigt, aber nicht nur einmal. Viel öfter.
Ich denke daran zurück und muss beinahe lachen, aber das Lachen erstickt in meiner Kehle. Ich muss aber nicht beinahe lachen, weil es mir gefallen
Weitere Kostenlose Bücher