Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
auf und hob die Hände. »Okay, wie du meinst. Peace, Schwester, okay?«
Julia warf zwei Zehn-Dollar-Scheine auf den Tisch, steckte ihr Portemonnaie wieder ein und trat aus dem Schatten des Cafés in die blendende Sonne.
»Hey, was ist mit dem Sandwich?«, rief Claire ihr nach.
»Nimm’s doch einfach mit und iss es unterwegs«, rief Julia zurück, während sie mit ihrer Hand in die Tasche griff, um sich zu vergewissern, dass das Foto auch wirklich wieder darin gelandet war.
Das war der Fall und sie fühlte sich deshalb sofort viel besser.
Julia lauschte, wie das Telefon zum fünften Mal an diesem Abend klingelte. Sie wusste, dass es entweder Belinda oder Cindy war. Samstags ging sie abends normalerweise mit ihren alten Freundinnen vom College aus.
Heute war ihr aber nicht danach. Sie hatte keine Lust, jemanden zu sehen oder mit jemandem zu reden, und das galt auch für denjenigen, der sie gerade anrief – wer immer das auch sein mochte. Sie spielte mit dem Gedanken, den Stecker des Telefons aus der Wand zu ziehen, aber es war ihr zu mühsam, deswegen extra aufzustehen.
Sie lag nackt auf dem Bett, hatte sich auf die Seite gedreht und hielt das Foto in ihrer Hand. Das Fenster war geöffnet und die Vorhänge, die sich mit jeder Windböe ein wenig aufblähten, hatte sie zugezogen. Der Fernseher lief, aber sie hatte den Ton leise gedreht.
Sie starrte nun schon seit Stunden auf das Foto. Claire hatte recht gehabt – das Haus machte ihr stärker zu schaffen, als sie sich zunächst eingestehen wollte.
Der Fleck auf ihrem Körper war seit dem Nachmittag erneut gewachsen. Nun reichte er von kurz oberhalb ihres linken Busens bis zur Mitte ihres Brustkorbs – ein länglich-eckiger Flatschen, der ungefähr die Größe einer Streichholzschachtel besaß. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte: Krebsgeschwüre wuchsen nicht so schnell. Er war auch nicht druckempfindlich, wie es bei einem blauen Fleck der Fall gewesen wäre.
Hatte sie sich im Haus irgendeine Krankheit eingefangen?
Sie wollte nicht zum Arzt gehen – Ärzte jagten ihr furchtbare Angst ein. Sie wollte Claire davon erzählen, aber nicht heute Abend. Jetzt wollte sie einfach nur mit dem Foto im Bett liegen. Es war das Einzige, was ihr Trost spendete, das Einzige, was sie von der Hitze ablenkte, vom Schreiben und von dem hässlichen Mal auf ihrer Brust.
Julia lächelte die Familie auf dem Foto an und stellte sich vor, dass sie zurücklächelten. Sie hatte ihnen allen Namen gegeben – der Mann hieß Sebastian, die Frau Heather, der Junge Craig und der Hund Sammy. Es war albern, das wusste sie, aber es war ihr egal. Das Foto hatte irgendetwas an sich, etwas Besonderes. Sie fühlte sich davon stark angezogen.
Sie fragte sich noch immer, wer diese Leute wohl waren, wo sie wohnten und wie das Foto seinen Weg in das Haus gefunden hatte. Diese Fragen schienen ihr inzwischen jedoch weniger wichtig als das Foto selbst, dem eine eigentümliche Energie innezuwohnen schien und das ihr Trost spendete.
Sie drehte sich auf den Rücken und blinzelte heißen Schweiß aus ihren Augen. Der Einfluss der Hitze machte auch vor der Aufnahme nicht halt. Ein kleiner Teil des Motivs war bereits komplett verschwunden, so als hätte das, was dort zu sehen gewesen war, niemals existiert.
Wo bist du hergekommen?, fragte sie sich und legte das Foto auf ihre Brust. Es fühlte sich heiß an, heißer als ihre Haut, aber trotzdem nahm Julia es nicht wieder weg. Irgendetwas rief nach ihr, irgendetwas oder irgendjemand, da war sie sich sicher, und als sie gerade ihre Augen öffnen und nachsehen wollte, ob es von draußen kam …
Überall Feen und Elfen und Zauberstäbe, nur dass sie nun von etwas Bösem besudelt worden sind. Das Zimmer ist dunkel, abgesehen vom Schein einer einsamen Kerze, die nicht nur die dreckige alte Matratze mit dem furchtbaren Gestank in flackerndes Licht taucht, sondern auch noch etwas anderes – etwas Kleines, Zitterndes. Eine menschliche Gestalt mit langem, goldenem Haar und schmutziger Kleidung. Der Kopf der Gestalt ist in die Matratze vergraben – sie scheint zu schlafen. Ein plötzliches Geräusch, ein Donnern, ertönt, und die Kerze zittert, so als gehe jemand ganz dicht an ihr vorbei und lasse ihr Licht über die Feen, Elfen und Zauberstäbe tanzen. Ein Mann. Groß, kräftig, behaart. Er betritt das Zimmer mit einer Tasche in der Hand, lächelnd. Dann wacht die kleine Gestalt mit dem langen, goldenen Haar auf, sieht zu
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