Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
sah, dass er jetzt von einem geröteten Hof umgeben war.
Es sah ganz so aus, als habe ihr Körper beschlossen, sie mit einem neuen Makel zu beglücken. Er wirkte völlig deplatziert. Ihr Köper war braun gebrannt, glatt und straff, wo er straff sein sollte – nicht schlecht für eine Frau, die unaufhaltsam auf die 40 zuging.
Wahrscheinlich ein blauer Fleck, sagte sie sich, während sie das feuchte Handtuch über den Ständer hängte.
Sie verließ das Badzimmer und ging in die Küche, wo sie eine Schüssel mit Obstsalat zubereitete und sich einen Kaffee aufbrühte – auch wenn sie in den feurigen Untiefen der Hölle weilte, brauchte sie trotzdem noch ihre allmorgendliche Dröhnung.
Verdammte Hitze, dachte sie und widmete sich ihrem Frühstück.
Es war unmöglich. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Seltsamerweise waren jedoch weder die Hitze noch ihr Kater das Problem.
Jedes Mal, wenn sie zu schreiben versuchte, schweiften ihre Gedanken wieder zu dem Foto ab. Wer waren die Menschen, die darauf zu sehen waren, und wie war sie in das Haus gelangt?
Sie leerte ihre sechste Tasse Kaffee, schaltete den Computer aus und ging ins Nebenzimmer, wo das Foto auf sie wartete.
Sie hob es auf, legte es auf ihr Bett und seufzte. »Du hältst mich vom Schreiben ab, weißt du das?« Bei Tageslicht sah das Papier noch verdreckter und abgenutzter aus. An den Rändern war es bereits verblasst, was sie am Abend zuvor gar nicht bemerkt hatte. Alles andere sah hingegen genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte – dieselben lächelnden Gesichter, dasselbe verwitterte Haus, derselbe senkrechte Knick durch die Mitte. Warum also war sie so ungeheuer fasziniert von dieser erstaunlich banalen Aufnahme? So sehr, dass es sie sogar vom Arbeiten abhielt?
War es ein Rätsel, das sie lösen musste? War es das? Als sie noch klein gewesen war, hatte sie Geheimnisse und Kriminalgeschichten immer geliebt – das war auch der Hauptgrund, weshalb sie heute selbst entsprechende Texte schrieb – deshalb erschien es ihr ganz natürlich, dass etwas wie diese Fotografie ihr Interesse weckte. Ein verlorenes Foto in einem verlassenen Haus. Einem Haus, das einst Schauplatz eines abscheulichen Verbrechens gewesen war.
Hat es etwas damit zu tun?, fragte Julia sich.
Ziemlich unwahrscheinlich, entschied sie. Trotzdem sah das Foto aus, als sei es vor nicht allzu langer Zeit aufgenommen worden – die Kleidung und die Frisuren wirkten modern, das Haus und das Grün drum herum ähnelten den Gärten in ihrer Nachbarschaft. War es vielleicht möglich, dass die Familie ganz in der Nähe wohnte?
Ich hab’s! Der attraktive junge Vater ist Immobilienmakler und hat neulich einem Kunden das verlassene Haus gezeigt. Als er dem Interessenten seine Karte geben wollte, ist das Foto von seiner Familie, das er in seiner Brieftasche immer bei sich trägt, herausgefallen, ohne dass er es bemerkt hat. Das wäre doch möglich. Langweilig, aber durchaus wahrscheinlich. Oder wie ist das? Der Junge ist mit dem Spaniel spazieren gegangen und hat spontan beschlossen, einen Blick in das sagenumwobene Haus zu werfen, und während er sich drinnen umgesehen hat, hat ihm irgendetwas Angst eingejagt. Dann ist er weggerannt und hat dabei das Foto verloren.
Beides erschien ihr plausibel. Julia lächelte, und obwohl sie sich albern dabei vorkam, schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie der Ehemann ihre Wohnung betrat, nur mit einer Jeans bekleidet, sein gestählter Oberkörper von der Sonne gebräunt und muskulös, während die Wölbung in seiner Hose mit aller Macht versuchte, sich aus ihrem zu eng gewordenen Gefängnis zu befreien …
Das Mädchen schreit und Tränen rinnen über ihre Wangen, als sich der Mann auf sie stürzt, seine Augen erfüllt von wilder Lust …
Julia schrie auf und knallte mit dem Kopf gegen das Bettgestell. Ihr Körper war schweißüberströmt und sie atmete schwer.
Mein Gott, was zur Hölle war das?
Im einen Moment hatte sie sich noch einem Tagtraum hingegeben, in dem der Kerl auf dem Bild die Hauptrolle spielte, und im nächsten …
Julia setzte sich auf und tastete ihren Hinterkopf ab. Die Berührung schmerzte, aber als sie auf ihre Finger sah, klebte kein Blut daran.
»Ich muss hier mal raus«, sagte sie entschlossen und sprang vom Bett auf.
Erst, als sie den Telefonhörer abnahm und Claires Nummer wählte, wurde ihr bewusst, dass sie das Foto noch immer krampfhaft umklammert hielt. Sie legte es auf den Couchtisch und rief ihre Schwester
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