Die Sünderin von Siena
begann umzublättern. »Ihr seid die Ehefrau von Messer Lupo di Cecco?«, fragte er.
»Ich bin die Tochter von Messer Bartolo Santini und seiner verstorbenen Gattin Francesca und Euch als Bürgerin dieser Stadt seit meiner Kindheit bekannt«, erwiderte Gemma.
Barnas Blick war kalt. »Aber Ihr lebt derzeit nicht im Haus Eures Ehemannes, ist das richtig?«
»Meine Stiefmutter Lavinia war sehr krank und brauchte Hilfe. Aus diesem Grund bin ich auf die Bitte meines Vaters hin in mein Elternhaus zurückgekehrt, um sie zu pflegen.« Das war die Version, auf die Bartolo und sie sich geeinigt hatten – jedenfalls vorläufig.
»Was hattet Ihr dann im Haus einer gewissen Mamma Lina zu schaffen – und leugnet nicht, dass Ihr Euch dort aufgehalten habt, denn Celestina hat Euch dort höchstpersönlich angetroffen!«
Die Männer hinter dem Tisch starrten sie an. Gemma begann am ganzen Körper zu schwitzen.
»Weshalb sollte ich das leugnen? Einige der Kinder von Mamma Lina waren sehr krank. Ich habe lediglich bei ihrer Pflege geholfen, nachdem ich zuvor in der Küche des Hospitals zur Hand gegangen war.«
»Auch bei der Pflege des kleinen Mauro?«, fragte der Rektor.
»Mauro litt an Halsschmerzen. Aus diesem Grund haben wir die Apotheke von Messer Marconi aufgesucht und bei ihm eine Arznei erstanden.« Sie fasste den Apotheker scharf ins Auge. »Er wird Euch sicherlich bestätigen, dass wir bei ihm waren.«
»Das ist richtig.« Marconi nickte. »Woher kennt Ihr diese Mamma Lina?«, fragte er.
Tausend mögliche Antworten schwirrten Gemma durch den Kopf, dann aber entschied sie sich doch für die Wahrheit, auch wenn diese vielleicht unwahrscheinlich klingen mochte.
»Wir haben uns im Dom kennengelernt«, sagte sie einfach, »beim Beten. Eines ihrer Kinder hat mich in der Marienkapelle angesprochen.«
»Beim Beten!«, schnappte der Apotheker. »Im Dom. Zwei so ehrbare, fromme Frauen – und ein toter kleiner Junge! Wie soll das zusammenpassen?« Er fixierte Gemma unfreundlich. »Könnte es nicht sein, dass Ihr diese Lina schon sehr viel länger kennt?«
»Ich verstehe nicht …«
»Ich denke, Ihr versteht mich sehr gut. In mir regt sich der Verdacht, dass sich hinter dieser scheinbar so harmlosen Begegnung weit mehr verbirgt, und genau das werden wir auch herausfinden.«
»Lina und ich sind Freundinnen geworden«, sagte Gemma. »Mir gefällt, wie gut sie zu den Kindern ist, die so viel mitmachen mussten.«
»So gut, dass sie ihren Tod billigend in Kauf nimmt?«, mischte sich nun der dritte Mann ein. »Oder ihn sogar herbeiführt?«
Obwohl ihr immer unbehaglicher zumute wurde, gelang es Gemma, nach außen gelassen zu bleiben.
»Ich weiß gern, mit wem ich es zu tun habe«, sagte sie. »Darf ich also Euren Namen erfahren, bevor ich antworte?«
»Richter di Nero«, antwortete Enea, sichtlich widerwillig.
Bice di Neros Mann! Gemma betrachtete ihn mit neu erwachtem Interesse. Ob er wusste, wie unglücklich seine Frau war?
»Lina würde niemals einem Kind etwas zuleide tun«, sagte sie. »Dafür kann ich mich verbürgen.« Sollte sie Catas Beobachtung erwähnen? Doch das müsste sie zunächst mit Lina klären. Außerdem würden diese Männer, die sie so feindlich beäugten, Catas Aussage sicher als kindisches Geplapper einer Idiotin abtun.
»Dann kennt Ihr sie also doch sehr gut?«, mischte sich nun wieder der Apotheker ein. »Womöglich schon aus der Zeit, da sie noch gar nicht in Siena lebte?«
»Ich habe Lina zum ersten Mal im Dom getroffen, zusammen mit ihren Kindern. Über ihr früheres Leben weiß ich nichts«, sagte Gemma. »Kann ich jetzt endlich Wasser bekommen? Meine Kehle ist wie ausgetrocknet.«
Auf ein knappes Nicken des Rektors hin, schob Celestina einen Becher über den Tisch. Gemma leerte ihn in einem Zug. Sein Inhalt kam ihr wie ein einziger Tropfen vor. Ihr ganzes Inneres schien in Flammen zu stehen.
»So kommen wir nicht weiter«, sagte Nardo Barna missmutig. »Wir bewegen uns im Kreis. Und obwohl der Kleine längst unter der Erde ist, liegt noch immer im Dunkeln, auf welche Weise er zu Tode kam.«
»Ihr habt ihn beisetzen lassen, ohne Mamma Lina Bescheid zu geben?«, rief Gemma. »Eine Mutter, die nicht einmal Abschied von ihrem Kind nehmen darf? Wie herzlos und grausam von Euch!«
»Sie war nicht seine Mutter«, unterbrach Celestina sie scharf. »Und wenn sie es sich hundertmal einbildet. Das Hospital gestattet ihr lediglich, die Kinder für eine gewisse Zeit bei sich aufzunehmen. Doch nach
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