Die Sünderin von Siena
diesem bedauerlichen Vorfall wird auch darüber neu entschieden werden müssen.«
»Ihr wollt Ihr die Kinder wegnehmen?«, entrüstete sich Gemma. »Wo doch Mauros Tod ohnehin so schrecklich für sie ist. Aber das dürft Ihr nicht!«
»Was wir dürfen und was nicht, bestimmen noch immer die Statuten des Hospitals und nicht Ihr!« Die Stimme des Rektors hätte eisiger nicht sein können. »Kommen wir noch einmal zu jener Nacht zurück, an deren Ende der kleine Mauro sterben musste. Wo habt Ihr Euch damals aufgehalten, Monna di Cecco?«
Da war sie, die Frage, vor der Gemma sich schon die ganze Zeit gefürchtet hatte! Hilfe suchend glitt ihr Blick zu dem alten Fresko, auf dem der Vater seinen verlorenen Sohn umarmte. Wie jener war auch sie reumütig und erleichtert unter Bartolos Dach zurückgekehrt. Wo sie aber in jener Nacht gewesen war, konnte sie nicht sagen. Was in aller Welt sollte sie jedoch antworten?
»Ich habe tief und fest geschlafen«, erwiderte sie schließlich, was nicht einmal eine Lüge war.
»In Linas Haus?«, fragte Barna.
Gemma konnte nicht nicken, geschweige denn die
Frage bejahen, obwohl es klug gewesen wäre. Sie brachte es einfach nicht über sich. Sehnsüchtig dachte sie an Matteo, an seine starken, zärtlichen Arme, in die sie sich am liebsten auf der Stelle geflüchtet hätte. Sie musste alles vermeiden, um ihn in Gefahr zu bringen, und das konnte sie nur, wenn sie ihn ganz aus dem Spiel ließ.
»Im Haus Eures Vaters?« Barnas Stimme klang in ihren Ohren wie Donnerhall: »Wo wart Ihr in jener Nacht, Monna di Cecco? Ich warte auf Eure Antwort.«
Schweigend starrte sie den Rektor an, mit zusammengezogenen Brauen, wütend und hilflos zugleich.
»Ihr wollt nicht antworten? Oder könnt Ihr nicht, weil Ihr Euch sonst selber belasten würdet – oder Eure Komplizin?«
Gemma blieb stumm.
»Ist Euch bewusst, dass Ihr Euch mit diesem Verhalten verdächtigt macht?«, bohrte Barna nach. »Äußerst verdächtig sogar. Denn wer sagt mir, dass nicht Ihr es wart, die den Kleinen weggelockt hat …«
»Mit Mauros Tod habe ich nicht das Geringste zu tun«, stieß Gemma hervor. »Das müsst Ihr mir glauben!« Aber er könnte noch leben, fügte sie stumm hinzu, wäre ich damals bei ihm geblieben. Das ist es, was ich mir niemals verzeihen werde.
»Bring sie hinaus, Celestina!«, befahl der Rektor. »Wir werden uns jetzt beraten.«
❦
Es war schon dunkel, als Gemma abermals aus der Zelle geholt wurde. Dieses Mal reichte Celestina ihr einen angeschlagenen Wasserkrug, bevor sie darum bitten muss te, und sie trank, soviel sie hinunterbekommen konnte. Zu Gemmas Überraschung aber brachte Celestina sie danach nicht die breiten Steinstufen hinauf zum Uffizium des Rektors, sondern zu einem kleinen Seitenausgang, den sie aufschloss.
Draußen nahmen Gemma zwei Männer in Empfang, die sie in der mondlosen Nacht nicht sofort erkannte, weil sie ihre Öllampen bedeckt hielten. Sie füllte als Erstes ihre Lunge mit der frischen, duftgetränkten Sommerluft und hätte am liebsten vor Erleichterung geweint. Die Aussicht, bis zum Morgen in diesem stinkenden Loch ausharren zu müssen, war schrecklich gewesen. Nun würde sie sich bald zu Hause von all diesen Fragen und Blicken erholen können.
Der große Mann machte eine Bewegung – und plötzlich erkannte sie ihn. Leo! Und der kleinere neben ihm war Savo Marconi, sein Dienstherr.
»Wir werden Euch jetzt begleiten, Monna di Cecco«, sagte der Apotheker. »Und es liegt ganz an Euch, ob diese Begleitung eher einem Spaziergang entspricht oder einer Überführung.«
»Wohin bringt Ihr mich?«, fragte sie beklommen.
»Dorthin, wo jede ehrbare Frau um diese Uhrzeit sein sollte«, lautete seine Antwort. »Nach Hause natürlich. Dort werde ich Euch dann ein Schriftstück des Rektors aushändigen, das Ihr gründlich studieren solltet, denn Ihr müsst wissen, diese vorläufige Freilassung ist mit strengen Auflagen verbunden.«
»Vorläufige Freilassung?«, wiederholte sie ungläubig. »Was soll das heißen?«
»Es ist Euch leider nicht gelungen, Rektor Barna von Eurer Unschuld am Tod des kleinen Mauro zu überzeu gen. Euer verstocktes Verhalten hat sogar schlimmste Vermutungen geweckt. Wir sehen uns gezwungen, weitere Erkundigungen einzuziehen und weitere Verhöre anzuberaumen. In der Zwischenzeit ist es Euch strikt untersagt, das Haus zu verlassen. Handelt Ihr der Anordnung zuwider, werden wir Euch auf der Stelle in Haft nehmen müssen.«
Gemma konnte nicht glauben,
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