Die Sünderin von Siena
was sie da hörte. Betäubt von Marconis Worten, ging sie ein ganzes Stück weiter, ohne auf den Weg zu achten.
Plötzlich blieb sie stehen. »Wir nehmen die verkehrte Richtung«, sagte sie. »Das Haus meines Vaters liegt auf der anderen Seite des Doms.«
Der Apotheker versetzte ihr einen kleinen Stups, als wolle er sie zum Weitergehen veranlassen, und als sie nicht gleich reagierte, bekam sie von Leo einen ordentlichen Stoß in die andere Seite.
»Denkt bloß nicht daran, wegzulaufen«, sagte Marconi. »Leo und ich haben versprochen, Euch sicher und heil abzuliefern, und wir wären mehr als untröstlich, sollte uns das nicht gelingen.«
Schweigend gingen sie weiter, bis in Gemma auf einmal ein schrecklicher Verdacht keimte. Das konnte, das durfte nicht wahr sein! Die Beine versagten ihr plötzlich den Dienst. Sie stolperte, wäre beinahe gefallen, hätte Leo sie nicht im letzten Moment aufgefangen.
»Wohin bringt Ihr mich?«, wiederholte sie und hasste es, wie dünn und ängstlich ihre Stimme jetzt klang.
»Wisst Ihr das nicht? Nur noch ein wenig Geduld, Monna di Cecco, und Ihr werdet es wissen!«
Es war wie in ihren beklemmendsten Albträumen: die nur allzu gut bekannte Straße mit den prächtigen Anwe sen zu beiden Seiten, schließlich das Haus mit der reich gegliederten Fassade, dessen Bogenfenster hell erleuchtet waren wie zu einem großen Fest. Jetzt flatterte die bunte Fahne der Contrade nicht im Wind wie damals, als sie an einem kalten Vorfrühlingstag weggelaufen war, sondern hing schaff herab, was das Einhorn zu einer hässlichen Kreatur entstellte.
Die Eingangstüre war weit geöffnet. Als dunklen Umriss erkannte Gemma eine Männergestalt, die sich langsam vom Hintergrund löste und ihr mit ausgebreiteten Armen entgegenging.
»Willkommen zu Hause, tesoro! «, sagte Lupo, während er sie an sich presste, dass sie kaum noch atmen konnte. »Und gebe die gütige Madonna, dass sich ab jetzt unsere Wege niemals wieder trennen werden!«
DRITTES BUCH
Oca
Contrade der Gans
Sieben
E rst beim Näherkommen konnte man erkennen, dass
die Salzarbeiter dreieckige Kappen aus schmutzigweißem Leinen auf dem Kopf trugen, die bis weit hinunter in den sonnenverbrannten Nacken reichten. Aus größerer Entfernung hätte man auf die Idee verfallen können, es seien lauter alte Männer, die dort im seichten Wasser bei der Salzernte waren. Mario hatte ihn gar nicht danach gefragt, was Bartolo äußerst verwunderte. Zu Hause in Siena hätte der Junge ihn sicherlich schon nach ein paar Augenblicken mit seinen neugierigen Erkundigungen bestürmt, doch seit sie unterwegs waren, schien vieles zwischen ihnen verändert.
Der Kaufmann warf ihm einen prüfenden Blick zu, einen weiteren aus einer ohnehin schon unendlichen Reihe, und ihm fiel auf, dass Mario plötzlich noch schiefer auf dem Pferd zu hängen schien. Der Junge war ein lausiger Reiter, der es einfach nicht hinbekam, mit dem Tier unter sich zu einer Einheit zu werden. Dies während des gesamten Ritts mitansehen zu müssen und doch nichts dagegen unternehmen zu können, machte Bartolo immer unruhiger. Deshalb war er mindestens so erleichtert wie Mario, als sie mit dem winzigen Küstenort Albinia endlich das erste Ziel ihrer Reise erreichten. Zudem hatten ihnen unterwegs dichte Mückenschwärme zugesetzt, die altbekannte Plage dieser Sumpfregion. Vor allem Marios Gesicht war von Stichen übersät, von denen er einige aufgekratzt hatte, sodass sie bluteten.
»Absitzen!«, sagte Bartolo und spürte, als er sich vom Pferd schwang, das Alter wie eine eiserne Kralle im Rücken. Mit meinen Jahren sollte ich besser im Kontor über den Büchern hocken und solch ermüdende Unternehmungen längst an einen Jüngeren delegiert haben, dachte er, während er sich vorsichtig reckte und streckte, um das Blut wieder in den Gliedmaßen zirkulieren zu lassen. Doch wer hätte ihm dafür schon zur Verfügung gestanden? Viel zu lang hatte er sich in der trügerischen Hoffnung gewiegt, sein Schwiegersohn Lupo di Cecco würde eines Tages dieser Jüngere sein. Jetzt freilich sah es ganz so aus, als sei diese Option verspielt und sein Großneffe Mario die einzige Hoffnung, die ihm geblieben war. Aber dann würde er noch viele Jahre intensiver Ausbildung in den Jungen investieren müssen, bevor er ihn ernsthaft als Nachfolger in Erwägung ziehen konnte.
»Bist du hungrig?«, fragte er, als sie hintereinander auf dem sandigen Weg die Pferde zu der einzigen Herberge weit und breit
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