Die Sünderin von Siena
die langen, zarten Ohren, das kleine Maul und die langen Zähne, die den ihren so ähnlich waren. » Coniglio « hatten ihr die anderen Kinder in der Gasse hinterher gerufen, » coniglio brutto!«. Da war sie gerade mal fünf gewesen. Hässliches Kaninchen – bis zum heutigen Tag hatte es sie jedes Mal mit grimmi ger Freude erfüllt, wenn sie einem dieser Tiere das Fell über die Ohren ziehen konnte.
Doch mit diesem Tierchen hier verhielt es sich ganz anders. Alles war so lebensecht, so exakt und gleichzeitig berührend dargestellt, dass es sie nicht verwundert hätte, wäre das kleine Wesen mit einem Satz aus dem Bild gesprungen und vor ihren Augen munter durch das ärmliche Haus gehoppelt.
Ornela legte die Blätter vorsichtig auf den Tisch. Dann sah sie ihren Sohn eine ganze Weile schweigend an. Schließlich begann sie den Kopf zu schütteln, und es gelang ihr nur mit Mühe, damit wieder aufzuhören. Nevio fing an, sich unter ihrem Blick zu winden.
»Ich weiß, es ist noch lange nicht perfekt!«, stieß er hervor. »Und natürlich gar kein Vergleich mit seinen Skizzen. Wie Matteo es immer nur anstellt – fünf, sechs Striche, sehr viel mehr sind es nämlich gar nicht, und schon beginnt alles wie aus eigener Kraft zu leben. Aber wenn du mir nur noch ein kleines bisschen Zeit gibst, werd ich auch noch dahinterkommen, versprochen! Und ich weiß auch schon genau, wie man es machen muss: Man muss sich nämlich das Innere eines Lebewesens ganz genau ansehen, dann versteht man erst, wie man sein Äußeres von außen her darzustellen hat. Wenn du also das nächste Mal schlachtest, musst du mich unbedingt dabei zuschauen lassen! Dann werde ich die Eingeweide zeichnen, verstehst du?«
Ornela blieb stumm.
»Aber so ganz miserabel ist es nicht, oder?« Stimme und Augen ein einziges Flehen. »Und falls doch, dann solltest du bedenken, dass wir Panizzi niemals einen Maler in der Familie hatten. Bäcker, Schuster, Gerber, Färber, Weber, Zimmerer – das ja. Aber einen echten Maler …«
Ihr nasser Kuss traf Nevio unvorbereitet mitten auf den Mund. Erschrocken sprang er zur Seite und wischte sich die Lippen mit dem Handrücken ab.
»Was soll das denn?«, fragte er unwirsch. Sein schmales Gesicht war glutrot angelaufen. »Ein Wickelkind, das man so einfach abknutschen kann, bin ich schon lange nicht mehr, das solltest du eigentlich wissen. Und dein Mitleid kannst du dir auch sparen, damit du schon gleich mal Bescheid weißt! Dass ich in deinen Augen lediglich ein elender Stümper bin und besser …«
»Mein Sohn ist ein Genie!« Ornelas Augen glänzten, so leicht und übermütig war ihr auf einmal zumute. Da war ihr Kleiner all die Jahre neben ihr herangewachsen, ohne dass sie ihn richtig erkannt hatte! Aber das würde sich nun ändern, das hatte sie soeben beschlossen. Nevio sollte merken, wozu er es noch bringen konnte, jetzt, da seine Mutter als engste Verbündete an seiner Seite kämpfte. »Für das ich alles tun würde. Alles !«
Angriffslustig stemmte sie die Arme in die fleischigen Hüften. »Wann also brechen wir zu deinem Meister auf? Von mir aus sofort. Ich kann es nämlich kaum erwarten, diesem verbohrten, durch und durch ungerechten Minucci endlich ins Gesicht zu grinsen.«
❦
»Ich fürchte, selbst das alles wird noch nicht reichen – bei Weitem nicht!« Das schmale Gesicht des Rektors war sorgenzerfurcht. In seinem Uffizium herrschte eine drückende Hitze. Irgendjemand hatte die Fenster weit aufge rissen, anstatt sie wie sonst schon am frühen Morgen mit blauen Tüchern gegen die Hitze zu verhängen. Allen Anwesenden rann der Schweiß herunter. Selbst das Wasser in den Tonkrügen, das eigentlich zur Erfrischung gedacht war, schmeckte inzwischen brackig und lau. »Damit werden wir gegen die bewaffneten Milizen der Ratsherren keinesfalls ankommen.«
»Im Normalfall magst du ja durchaus recht haben«, sagte Enea di Nero. »Doch vergiss eines nicht, lieber Freund: Der Tag des Palio ist eine Ausnahme. Da wirst du in ganz Siena weit und breit keine Milizen finden, sondern nur begeisterte contradaioli , die die Farben ihres Viertels tragen.« Er beugte sich wieder über seine Notizen. »Sieht doch gar nicht so übel aus: zweihundert Speere, ebenso viele Lanzen, fünfzig Armbrüste – und jede Menge Knüppel für das einfache Volk, das unterwegs zu uns stoßen wird. Wie soll der Zwölferrat da noch dagegenhalten können?«
»Was mir daran missfällt, ist, dass der Großteil der Waffen von den Salimbeni
Weitere Kostenlose Bücher