Die Sünderin von Siena
ausgedrückt.«
»Celestina?«, fragte Gemma. »Was will sie von mir?«
»Der Rektor erwartet dich. Sie soll dich auf der Stelle zu ihm bringen. Mehr weiß ich auch nicht.« Zum ersten Mal, seit Gemma die zweite Frau ihres Vaters kannte, entdeckte sie echte Besorgnis in deren Blick. Besorgnis, die ihr galt, und das erschreckte sie mehr als alles andere.
»Ich komme!«, sagte sie. »Sag ihr, ich bin gleich da!«
Das Bleigewicht auf der Brust raubte ihr schier den Atem, als sie aufstehen wollte. Und im nächsten Augenblick glaubte sie zu spüren, wie die Schlange in der Magengrube sich züngelnd aufrichtete. Gemma suchte nach einem Halt, bekam den Bettpfosten zu fassen und klammerte sich daran, als sei er die einzige Stütze, die ihr noch geblieben war.
❦
»Du musst uns helfen, bitte, Mamma, du musst!«
Wenn Nevio diesen flehenden Gesichtsausdruck aufsetzte, war es schwierig, ihm etwas abzuschlagen, doch Ornela war fest entschlossen, sich nicht umstimmen zu lassen.
»Er hat mich beleidigt. Schwer beleidigt! Er muss sich entschuldigen, das ist das Mindeste, was ich verlange. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Schlimm genug, dass du ihm heimlich meine Eier zugesteckt hast, einem unverschämten Kerl wie diesem Matteo!«
»Aber wir ersticken allmählich im Dreck.« Der Junge ließ sich nicht abwimmeln. »Der Fußboden, die Tische – alles ist voller Leim und Farbe. Du hast ja keine Vorstel lung, in welch feinen Partikeln geriebener Lapislazuli sich verteilen kann! Überall findest du dieses verdammte blaue Zeug – unter den Nägeln, in den Ohren, sogar zwischen deinen Hinterbacken!«
»Und weshalb nimmst du dann nicht einen Eimer und einen Lappen und wischst alles gründlich auf? Soll ich es dir sagen? Weil du dir dafür zu schade bist – aber deine arme alte Mutter soll sich die Hände ruhig schmutzig machen!«
Sie schnaubte gekränkt, wie es nun mal ihre Art war, hatte aber bereits angebissen. Der Junge war sich beinahe sicher. Doch es würde nicht schaden, noch etwas nachzulegen. Seine Mutter war keine Frau der leisen Töne. Wie ihre Augen jedes Mal leuchteten, wenn beim Palio die Trommeln geschlagen wurden! Etwas kräftigere Musik wäre also gewiss eher nach ihrem Geschmack.
»Ich kann es einfach nicht so gut wie du«, sagte Nevio zerknirscht. »Ganz ehrlich! Putzen ist eben auch eine Kunst. Ganz ähnlich wie Malen. Und außerdem bin ich bei ihm doch als Lehrling, damit er mich in allem unterweist, oder etwa nicht? Soll ich dir etwas zeigen?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, lief er hinaus und kam kurz darauf mit einigen Blättern zurück, die er so vorsichtig in seinen Händen hielt, als bestünden sie aus purem Gold. Er musste sie in dem winzigen Verschlag versteckt gehabt haben, in dem er schlief. Kein ganz einfaches Unterfangen, wie Mutter und Sohn wussten.
»Papier!« Nevios Stimme bebte. »Ein völlig neues Material, kostbar und überaus selten. Matteo hat mir ein paar Blätter davon überlassen. Er sagt, ich sei es ihm wert. Ist das nicht schön, dass er so viel von mir hält? Und schau nur, Mamma, was ich daraus gemacht habe!«
Die erste Zeichnung zeigte zwei Spatzen, die sich mit geplustertem Federkleid um eine Pfütze balgten, ein Moment, den er mit seiner Kreide knapp und treffend festgehalten hatte. Auf den nächsten Blättern waren Mauersegler zu sehen, mitten im Flug, anmutige, pfeilschnelle Segler der Lüfte. Ihre schlanken Körper glichen Wurfgeschossen, aber dennoch zeigte jede einzelne Feder, die Nevio festgehalten hatte, dass es lebendige Vögel waren.
Der Spott erstarb Ornela auf den Lippen. Das sollte von ihm stammen, dem letzten und einzigen ihrer fünf Kinder, das überlebt hatte? Nevio war mit den Füßen voraus geboren worden, was eigentlich als schlechtes Zeichen galt, und beim Eintritt in die Welt noch magerer und verschrumpelter gewesen als die anderen vier vor ihm. Aber er erwies sich als ungemein zäh, das hatte sie schon in den ersten Tagen seines jungen Daseins bemerkt. Es war beinahe, als sei die Kraft der anderen, die bei keinem zum Überleben gereicht hatte, in diesen winzigen Körper geflossen, um sich dort zu behaupten.
Einer für alle. Alle für Nevio.
Ornela war plötzlich so gerührt, dass sie nicht mehr sprechen konnte. Doch es kam noch besser. Auf den letzten beiden Blättern hatte Nevio ein Kaninchen dargestellt, das er einmal an einer Karotte mümmelnd und einmal im Schlaf gezeichnet hatte. Sie konnte jedes einzelne Härchen sehen, den Strich des Fells,
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