Die Sünderin von Siena
den anderen Engeln durchzuschlagen? Aber würde ihm das nicht als Feigheit ausgelegt werden?
Er wartete, bis das Seitenstechen verflogen war, dann streckte er vorsichtig die Nase um die Ecke. Alles schien ruhig, kein Verfolger weit und breit zu sehen. Er trat auf die Gasse und machte sich auf den Weg zum Quartier.
Dort fand er Michele vor, den es schlimm erwischt hatte. Der Freund hatte die Kutte abgestreift, um seine Verletzungen zu untersuchen, und schien sich seiner Nacktheit nicht zu schämen. Seine Lippe war aufgeplatzt und geschwollen, der muskulöse Oberkörper und die schlanken Schenkel von blauen Flecken übersät. Besonders übel sah eine Kniewunde aus, in die offenbar Schmutz geraten war. Große Schwierigkeiten bereitete Michele das Atmen; seine Brust hob und senkte sich stoßweise. Offenbar hatte er erhebliche Schmerzen beim Luftholen.
»Hast du das Geld?«, war alles, was er hervorbrachte, als Giovanni umständlich sein Mitgefühl äußern wollte. »Da links sticht es zum Verrücktwerden. Ich fürchte, diese geizigen Schweine haben mir doch glatt zwei Rippen gebrochen.« Ächzend ließ er sich auf das Stroh sinken.
»Alles bereits beim Prediger abgeliefert«, sagte Giovanni. »P adre Bernardo hat übrigens nach dir gefragt. Kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Mit einem Muttersöhnchen wie dir hat man doch nichts als Ärger!«, brummte Michele. »Lass mich einfach in Ruhe!«
Was leichter gesagt war als getan. Denn die Bilder überfielen Giovanni unbarmherzig aufs Neue, sobald er sich schweigend neben Michele gelegt hatte. Er schloss die Augen, um den nackten Freund nicht länger ansehen zu müssen, und war sich dessen Präsenz dennoch mit jedem Atemzug bewusst. In seinem Kopf verschwammen Micheles Verletzungen mit der Kopfwunde seiner Mutter. Dann wieder sah er den blutenden Savo vor sich, wie er ohnmächtig dagelegen hatte. Und wenn er inzwischen gestorben war? Dann wären sie zu Mördern geworden – und müssten bis zum Ende aller Zeiten in der tiefsten Hölle braten.
Vergib mir, heiligste Muttergottes!, betete Giovanni in stummer Verzweiflung, weil er nicht wagte, auch nur einen Ton von sich zu geben. Wir haben einen schrecklichen Fehler begangen. Aber wir sind nicht schlecht. Nicht in unseren Herzen. Das musst du mir bitte glauben! Ich nicht – und mein lieber Freund Michele erst recht nicht.
In einer jähen Gefühlsaufwallung wandte er sich Michele zu und streifte dabei versehentlich mit dem Arm dessen nackten Schenkel. Der Verletzte fuhr wie verbrannt hoch, dabei schrie er laut auf, weil er bei der heftigen Bewegung offenbar nicht an seine malträtierten Rippen gedacht hatte.
»Was fällt dir ein, du Vollidiot!« Micheles anmutiges Gesicht war schmerzverzerrt. »Erst muss ich schon wieder den Kopf für dich hinhalten, und dann besitzt du auch noch die Frechheit, mich ausgerechnet jetzt anzugrapschen! Such dir gefälligst einen anderen für deine schmierigen Gelüste, verstanden? Ich hab wirklich Besseres zu tun!«
»Nein!« Giovanni war leichenblass geworden. »Das wollte ich doch nicht! Niemals! Das verstehst du alles vollkommen falsch.«
»Hau ab! Hau endlich ab!« Michele drehte sich stöhnend zur Wand. »Ich hab dich so satt, dass ich kotzen könnte. Such dir gefälligst einen andern Schlafplatz! Ich kann deinen Anblick nicht länger ertragen.«
Micheles abgewandter muskulöser Rücken erschien Giovanni wie eine einzige fleischgewordene Anklage. Der Freund hasste ihn. Er ekelte den Freund nur noch an. Michele hatte ihn endgültig durchschaut und wusste, was wirklich in ihm vorging.
Tränenblind stolperte Giovanni hinaus.
Die Last auf seiner Brust war so schwer, dass nun auch er heftig nach Luft ringen musste. In seinen Ohren rauschte es, und seine Beine waren wie aus flüssigem Blei. Aber jetzt wusste er wenigstens, was er tun musste, um nicht für immer in die tiefste Hölle abzusteigen: zum Prediger gehen und endlich seine schwere Sünde eingestehen.
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Wut hinderte Gemma am Ersticken, denn sie hielt sie vom Weinen ab und brachte sie zudem dazu, nach und nach eine Methode zu entwickeln, wie sie trotz des widerlichen Knebels mühsam weiteratmen konnte. Arme und Beine spürte sie schon lange nicht mehr, so taub waren sie durch die festgezurrten Stricke geworden. Eine ganze Weile hatte sie versucht, zusammen mit dem Stuhl in die Nähe des kleinen Tisches zu rücken, auf dem zwei Becher und ein Krug standen. Vielleicht konnte es ja gelingen, den Tisch leicht anzuheben und
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