Die Sünderin von Siena
winzigen Augenblick!«
Leo blieb stehen.
Fieberhaft suchte sie nach einer Lösung. Bartolo und Mario waren noch an der Küste; Lavinia würde keinen Finger für sie rühren. Den Liebsten wollte sie mit aller Macht heraushalten, denn Lupo würde Matteo umbringen, sollte der Maler sich einmischen, soviel war gewiss. Dann blieb nur noch eine Einzige: Mamma Lina!
»Dann musst du für mich wenigstens jemandem eine Nachricht überbringen«, sagte sie. »Bitte, Leo! Nur eine kleine, unschuldige Nachricht, dagegen kann doch auch dein padrone nichts einzuwenden haben.«
Hatte er genickt?
Es war inzwischen so dunkel, dass sie sich nicht sicher war. Atemlos sprach sie trotzdem weiter: »Du weißt doch, Mamma Lina, die Frau in Fontebranda mit den vielen Waisenkindern, mit denen du so schön gespielt hast. Geh zu ihr und sag ihr, dass ich wieder bei Lupo sein muss. Bei Lupo!«
»Ich gehe jetzt?«
Was hatte diese seltsame Frage zu bedeuten? Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm.
»Ja, du gehst«, sagte Gemma in bestimmtem Ton. »Und zwar zu Mamma Lina und sagst ihr, dass Gemma wieder bei Lupo sein muss. Kannst du dir das merken? Bitte sag es noch einmal für mich, Leo!«
»Gemma muss wieder bei Lupo sein«, wiederholte er gehorsam. »Leo geht zu Mamma Lina.«
»Ausgezeichnet!« Ihre Beine zitterten inzwischen so sehr, dass sie sich auf das Bett fallen ließ, obwohl ihr vor der Berührung des besudelten Lakens grauste. Sie konnte nicht fliehen, nirgendwohin, nicht in diesem Zustand. Aber sie konnte auf die Klugheit Linas bauen, die hoffentlich sofort verstehen würde, was diese Nachricht bedeutete. Ob sie auch die Größe besaß, Matteo in Kenntnis zu setzen, trotz der Abneigung, die sie bislang gegen ihn gezeigt hatte?
Gemma konnte nur beten, dass Leo die Botschaft überbringen würde. Denn der Gehilfe des Apothekers war inzwischen ebenso leise verschwunden, wie er gekommen war.
Die Türe war wieder verschlossen, wie sie es zuvor gewesen war. Was aber, wenn Lupo zurückkehrte und sie von den Fesseln befreit vorfinden würde? Gemma fielen die Tonbecher wieder ein. Im Dunkeln tastete sie nach ihnen. Keine unbedingt überzeugende Lösung, aber immerhin eine halbwegs glaubhafte.
Sie griff nach ihnen, wog sie kurz in der Hand, um sie nacheinander auf den Fußboden zu schmettern, wo sie laut in Scherben zerbrachen. Sie bückte sich, hob eine davon auf und zog sie sich beherzt über die Innenseite des linken Handgelenks. Als sie das Blut auf den Stein tropfen hörte, nickte sie zufrieden.
Genau so hatte sie es sich vorgestellt.
❦
»Hier also soll es sein?« Bartolo wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. Hinter ihnen lag ein anstrengender Ritt durch dichte Korkeichen- und Pinienwälder, die schließlich in niedrigere üppig grüne Macchia übergegangen waren, als sie sich immer mehr dem Ufer näherten.
Der Mann, der sie zu der sichelförmigen Bucht geführt hatte, nickte. »Der Golf von Baratti. Ein uralter Hafen«, sagte er. »Manche behaupten, es habe ihn schon immer gegeben.«
»Aber da ist ja so gut wie gar nichts zu sehen!«, rief Mario, der den Mann, der sie begleitete, noch immer mit dem allergrößten Misstrauen beäugte. »Nur diese halb verrottete Mole. Und da sollen große Schiffe festmachen können?«
Der Bärtige schüttelte den Kopf.
»Sie ankern ein ganzes Stück weiter draußen«, sagte er. »Auch wenn sie von Elba herüberkommen. Das ist sicherer, um sich vor den Piraten zu schützen, die die ganze Küste kontrollieren. Im ersten Morgengrauen legen dann kleine Boote an und bringen die Ladung ans Ufer. Kommt! Ich will Euch etwas zeigen.«
Er führte sie ein Stück weiter, wo hinter wirrem Gestrüpp tatsächlich mehrere kleine Boote kieloben versteckt waren.
»Seht Ihr die Spuren auf dem Boden?«, fuhr er fort. »Sie stammen von diesen Booten, die mühsam an Land gezogen werden. Seit vielen, vielen Jahrzehnten haben sie sich eingegraben, sonst wären sie nicht so tief.«
Es fiel schwer, sich das Verbrechen vorzustellen, von dem der Mann berichtet hatte, so windstill und makellos war dieser Tag. Ein blanker, hoher Himmel, der mit dem Meer um die Tiefe des Blaus zu wetteifern schien; das Schrillen unzähliger Zikaden, der Duft nach Kräutern, den die heiße Sonne erst richtig hervorbrachte.
»Und hier ist all mein kostbares Salz gelandet?«, fragte Bartolo. »Hier, in dieser verschwiegenen Bucht?«
»Euer Salz wie so manches andere davor und danach. Von hier aus ist es nur
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