Die Sünderin von Siena
das Geschirr zum Herunterfallen zu bringen, um dann mit den Scherben die Fesseln zu zerschneiden – doch irgendwann hatte sie aus schierer Erschöpfung aufgegeben.
Sie fror, obwohl es im Zimmer stickig war, und wusste genau, dass diese Kälte nichts mit dem sommerlichen Abend zu tun hatte, der sich inzwischen langsam über Siena senkte. Ob er sie bis zum Morgen hier so gefesselt lassen würde – oder sogar noch länger?
Inzwischen hielt Gemma nichts mehr für unmöglich. Lupo hatte endgültig seine Maske abgelegt, und die widerlichen Fratzen, die sich dahinter nach und nach offenbarten, waren in ihrer Scheußlichkeit kaum noch zu überbieten.
Es war so still, dass sie den eigenen Herzschlag überdeutlich hörte, ebenso das schnelle Keuchen ihres Atems. Hatte er die ganze Dienerschaft weggeschickt? Oder hockten sie irgendwo hinter einer der verschlossenen Türen und wagten nur nicht, sich zu rühren?
Als sie Schritte auf der Treppe vernahm, die immer näher kamen, versteifte sie sich unwillkürlich noch mehr. Dann ein undefinierbares Kratzen und Schaben am Schloss, bis die Türe unversehens aufsprang.
Mit ein paar Sätzen war die Gestalt neben ihr, verhüllt von einem schwarzen Umhang, der bis zu den Knöcheln reichte. Mantellatinnen trugen für gewöhnlich solche Kleidungsstücke, schoss es Gemma durch den Kopf, aber obwohl sie wenig erkennen konnte, war sie aufgrund der stattlichen Größe und der Art, sich zu bewegen, überzeugt, einen Mann vor sich zu haben.
Zu ihrer Überraschung bedeckte er als Erstes ihre entblößten Beine mit den Fetzen ihres Rocks, so gut es eben ging. Danach schnitt er sie mit einem Messer vom Stuhl los und durchtrennte im nächsten Augenblick geschickt ihre Fesseln an Hand- und Fußgelenken. Schließlich erlöste er sie von dem Knebel.
Aus Scham wandte Gemma sich ab, keuchte und würgte, erst dann wandte sie sich ihrem Befreier zu. Das letzte Tageslicht war am Erlöschen, reichte aber gerade noch, dass sie ihn erkannte.
»Leo – du?« Ihre Stimme klang brüchig. »Wasser!«
Er brachte den Krug, und sie trank in gierigen Schlucken.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte Gemma. »Woher wusstest du, dass ich eingeschlossen war?«
Der Gehilfe Marconis zuckte die plumpen Schultern. »Leo kennt viele Häuser«, sagte er. »Und viele Eingänge. Leo kennt die ganze Stadt.«
»Aber wie bist du hier hereingekommen?« Jedes Wort bedeutete eine Anstrengung, weil die Zunge noch immer wie ein Fremdkörper geschwollen im Mund lag. Aber dennoch musste Gemma weiterfragen. »Wer hat dich reingelassen? Einer der Diener?«
»Mein Freund.« Ein breites Grinsen, das Leo auf der Stelle wieder zum kleinen Jungen machte. Er hatte ein Stück gebogenen Draht aus seinem Ärmel gezogen und schwenkte es vor Gemma hin und her. »Kann alles aufmachen. Alles!«
Sie versuchte ihre verbliebenen Kräfte zusammenzunehmen und rappelte sich mühsam hoch. Beinahe wäre sie sofort wieder hingefallen, weil jegliches Gefühl aus Beinen und Füßen geschwunden war. Doch Leo stützte sie im letzten Moment.
»Du musst mich auf der Stelle hinausbringen«, sagte sie hastig. »Du siehst doch, was mit mir passiert ist. Sperr für mich die Haustüre auf, Leo! Bring mich hier weg! Du musst mir helfen! Sonst werde ich sterben.«
Jetzt sah er plötzlich trübsinnig drein. »Hat der padrone verboten. Und Leo tut, was der padrone sagt.«
»Marconi? Dann hat der Apotheker dich zu mir geschickt?«
Aber welchen Sinn ergab das? Und wie konnte Marconi ahnen, was ihr in Lupos Haus zustoßen würde, in dem er sie selber erst vor Kurzem wie ein Stück Vieh abgeliefert hatte? Tat ihm inzwischen leid, dass er den Befehl des Rektors ausgeführt hatte?
Leo zuckte schweigend die Schultern. Sein Gesicht war so leer und glatt wie eine weiße Wand. Gemma wurde immer ängstlicher zumute. Was begriff dieser kindliche Hüne überhaupt? Überstieg nicht alles, was sie zu ihm sagte, sein winziges Restchen Verstand? Aber Leo war ihre einzige Chance, und die war sie gezwungen zu nutzen.
»Muss gehen«, brummte er. »Leo muss fort.«
»Kannst du mir nicht wenigstens für eine Weile deinen Freund dalassen?«, bat sie, so eindringlich sie nur konnte. »Nur geliehen. Ich gebe ihn dir später auch bestimmt wieder zurück – versprochen!«
Er schüttelte den Kopf. »Hat der padrone verboten. Freund bleibt bei Leo. Immer!« Er strebte der Türe zu.
»Noch nicht abschließen!«, rief Gemma in jäh aufsteigender Panik. »Warte, nur noch einen
Weitere Kostenlose Bücher