Die Sünderin von Siena
hauptsächlich Notare und reiche Fernhändler gehörten.
Dazu hatten sie, so wie sie es mit Nudeln und Fleisch getan hatten, auch mit den Öllichtern auf der langen Tafel nicht gegeizt, und in deren Schein erschrak Bartolo, als er Jacopos Gesicht näher betrachtete. Die Haut des Färbers war von einem ungesunden, fleckigen Gelb, seine Züge wächsern, nur die tief liegenden braunen Augen blickten so neugierig und offen, wie der Kaufmann es in Erinnerung hatte.
»Ihr seid wohlauf, Messer Jacopo?«, fragte Bartolo vorsichtig. »Und die werte Familie auch?«
»Na ja, der Magen will in letzter Zeit nicht mehr so recht seinen Dienst tun.« Jacopos Rechte, in deren Rillen Krapp und Waid unauslöschlich ihre Spuren hinterlassen hatten, strich über den eingefallenen Bauch. »Aber das wird sich irgendwann sicherlich schon wieder einrenken. Wir werden eben alle nicht jünger. Und unsere Sorgen nicht gerade kleiner.«
»Wem sagt Ihr das?« Jemand hatte Bartolo einen Becher mit Wein hingestellt, den er durstig leerte. Sofort wurde ihm von seinem Nebenmann neu eingeschenkt.
»Es sind immer die Töchter, die uns die Nachtruhe kosten, obwohl auch die Söhne uns manchmal um den Schlaf bringen können.« Die Augen des Färbers ließen Bartolo nicht mehr los. »Mein jüngstes Kind ernährt sich nur noch von Luft und Wasser, und Eure Tochter Gemma …«
»… ist natürlich unschuldig«, sagte Bartolo. »Und jeder, der das Gegenteil zu behaupten wagt, wird mich noch kennenlernen!«
»Das sagt Caterina auch. Sie betet seit Tagen für Eure Tochter. Das zu wissen, macht Euch vielleicht ruhiger, Messer Santini.«
»Wesentlich ruhiger würde es mich machen, wenn Eure fromme Caterina diese Überzeugung nicht für sich behalten, sondern sie Rektor Barna persönlich kundtun würde. Dann hätte Gemma vielleicht …« Bartolo hielt mitten im Satz inne.
Das musste sie sein!
Sie sah aus wie eine jüngere Lucia, eine winzige Teresa. Gemma zum Verwechseln ähnlich, wie diese als kleines Mädchen gewesen war. Tränen schossen in Bartolos Augen, während er auf das Kind starrte, das ganz vertieft in das Spiel mit seiner Flickenpuppe schien.
»Angelina?«, hörte er eine Frau rufen, die trotz der warmen Nacht in den dunklen Umhang einer Mantellatin gehüllt war. »Nicht so weit weg von uns! Was hab ich dir dazu erst zu Hause gesagt? Lelio, hol sie sofort zurück!«
Die Kleine zog den Kopf ein und ging zu der Frau, während ein magerer Junge mit erstaunlich abstehenden Ohren aufsprang und diesen Prozess beschleunigen wollte, indem er sie fest am Ärmchen packte. Sie wehrte sich dagegen, trat ihn sogar.
»Aua! Du tust mir ja weh, Lelio!«, rief sie mit heller Kinderstimme, die Bartolo durch und durch ging. »Ich hör doch schon!« Wie zur Bekräftigung stampfte sie auf.
»Du musst gehorchen, Angelina«, sagte der Junge ernst. »Du weißt doch, was sonst passieren kann! Hat jemand Fremder dir etwas zu essen gegeben?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Niemand! Wir dürfen doch gar nichts annehmen, hat Mamma Lina gesagt. Aber kann ich jetzt endlich wieder mit meiner Puppe spielen?«
Ihr temperamentvolles Auftreten erinnerte Bartolo an die junge Hure, die er ab und zu aufgesucht hatte, nachdem feststand, dass Lavinia nach Lucias Geburt niemals mehr schwanger werden durfte. Ein scheues Mädchen vom Land, wortkarg und in sich gekehrt, das allerdings zu überraschenden Wutausbrüchen neigen konnte. Als er Fiamma Baglioni zum letzten Mal besucht hatte, hatte sie ihn in knappen Worten über ihre bereits fortgeschrittene Schwangerschaft unterrichtet, was für ihn Grund genug war, diesen ohnehin gefährlichen Kontakt auf der Stelle abzubrechen. Obwohl er nicht sicher sein konnte, dass er der Vater dieses Bankerts war, hatte er seitdem regelmäßig für das Kind gezahlt, auch nach Fiammas frühem Tod, denn er wollte auf keinen Fall in Schwierigkeiten geraten. Noch eine Tochter – die vierte, und das auch noch von einer jungen, bettelarmen Hure! Nicht auszudenken, wenn Lavinia jemals davon erfahren hätte.
So ähnlich jedenfalls hatten in jenen Tagen seine Überlegungen gelautet. Heute aber, in dieser seltsamen Nacht voller Schmerzen und Wunder, schien alles, was er je gedacht und geglaubt hatte, ganz unerheblich. Worum ging es eigentlich im Leben? Dass seine Töchter leben konnten, dass sie gesund, froh und glücklich waren, die Älteste ebenso wie die Kleinste, der er gerade mit aufkeimendem Vergnügen zuschaute.
»Messer Santini?« Der
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