Die Sünderin von Siena
er plötzlich mit einer ansteckenden Krankheit behaftet – alles Reaktionen, mit denen er rechnen musste, seit man seine Tochter offiziell des Mordes verdächtigte.
Bartolo hätte gar nicht sagen können, dass er ein bestimmtes Ziel ansteuerte, doch als er sich schließlich auf der Gasse wiederfand, die hinunter nach Fontebranda führte, wusste er auf einmal, dass es nur einen einzigen Ort in der ganzen Stadt gab, zu dem es ihn in dieser Nacht zog. Schon nach wenigen Schritten waren seine Schuhe gelblich verfärbt, denn das rutschige Kopfsteinpflaster bedeckte bereits jener spezielle Belag aus Sand und Tuff, der die sattellos gerittenen Pferde in den engen Gassen vor dem Ausgleiten und vor Stürzen bewahren sollte. Tagelang würde er auf den Straßen und Plätzen Sienas zurückbleiben, an unzähligen Sohlen in die Häuser getragen werden und so noch lange nach dem Palio die Erinnerung an jenen Tag wachhalten.
Die Stimmen der Menschen, die auch hier in der Sommernacht vor ihren Häusern an langen Tischen aßen und zechten, hörte er schon aus einiger Entfernung. Vereinzelte Lachsalven, die sich ab und an daruntermischten, erschienen ihm eher verhalten, doch das konnte ebenso gut an seiner bedrückten Stimmung liegen. Auch wenn ein zweites Kind aus dem Viertel gestorben war, so hatten die Bewohner doch allen Grund, um ausgelassen zu sein. Oca war die Contrade, die unter allen anderen im Lauf der Jahre die meisten Siege davongetragen hatte, und nachdem hier auch Caterina Benincasa lebte, trotz ihrer jungen Jahre von vielen schon jetzt für eine Heilige gehalten, rechneten sich die contradaioli, die seit jeher eine weiße Gans im Wappen führten, auch für dieses anstehende Rennen zu Ehren der Madonna die besten Aussichten aus. Caterina Benincasa, die Bartolo schon kannte, seitdem sie laufen konnte! Warum nur war sie ihm nicht schon längst als Rettung eingefallen?
Lavinia hatte vor einiger Zeit eher beiläufig erwähnt, dass Gemma einige Male bei ihr gewesen sei und Schreibarbeiten für sie erledigte, auch dass sie sich sogar bereit erklärt habe, der Färbertochter Lesen und Schreiben beizubringen, was diese bislang nicht erlernt hatte. Wenn Caterina also sein Mädchen kannte und ihr offensichtlich vertraute – vielleicht konnte sie sich dann bei Barna für Gemma verwenden.
Plötzlich fiel ihm das Gehen um einiges leichter, und auch die zentnerschwere Last, die seit Tagen auf seine Schultern drückte, war mit einem Mal leichter zu tragen. Gemma konnte nicht verurteilt und hingerichtet werden! Sie war unschuldig, und mit der Hilfe passender Bundesgenossen musste es ihm auch gelingen, das zu beweisen.
Inzwischen war er dem Färberhaus so nah gekommen, dass er seine Schritte unwillkürlich verlangsamte. Was tat er hier eigentlich? Er war losgegangen, aus diesem inneren Drang heraus, ohne lange zu überlegen. Aber er hatte sich keine ganz einfache Nacht für sein Vorhaben ausgesucht. Die Fehden und Querelen zwischen den einzelnen Contraden erreichten genau um diese Zeit traditionellerweise ihren Höhepunkt. Es war schon mehr als einmal vorgekommen, dass ein f antino haltlos betrunken gemacht wurde, um ihn anderentags als Konkurrenten auszuschalten, dass Pferde verletzt oder die Wachen des Rennstalls niedergeschlagen wurden, sodass sie sich am Morgen mit einer leeren Box konfrontiert sahen und beim Palio nicht antreten konnten.
Zwischen Selva und Oca bestand glücklicherweise keine dieser alten Feindschaften, doch Bartolo war und blieb ein Fremder hier, der an die festlich gedeckte Tafel seiner eigenen Contrade gehört hätte.
»Messer Santini!« Es war zu spät, um sich noch unbemerkt zurückzuziehen. Jacopo Benincasa, Caterinas Vater, hatte ihn bereits erspäht und winkte ihn heran. »Esst und trinkt mit uns! In dieser Nacht ist uns jeder Freund als Gast willkommen.«
Vorsichtig ließ Bartolo sich am äußersten Ende der Bank nieder. Er hatte Jacopo einige größere Aufträge zukommen lassen, doch das lag Jahre zurück. Inzwischen hatte er sich von der Tuchproduktion weitgehend zurückgezogen und anderen Geschäftssegmenten zugewandt, aber dennoch schien Benincasa sich noch immer deutlich zu erinnern. Seine Offenheit wärmte Bartolo das Herz. Es lag Tage zurück, dass jemand nur halb so freundlich zu ihm gewesen war wie dieser Färber, das rührte den Kaufmann. Und auch, wie verschwenderisch diese einfachen Leute aufgetischt hatten, kein bisschen anders als noble Contraden wie Torre oder Aquila , zu denen
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