Die Sünderin von Siena
mir.«
Wieder hatte Matteo den Eindruck, dass ein schweres Gewicht auf ihrer Seele lastete. Irgendwann würde Lina zu reden beginnen und alles erzählen, was sie bedrückte, das wusste er.
Aber noch nicht jetzt und hier.
»Und Gemma? Warum hat man sie dann beschuldigt,
wenn es sich so verhält, wie du eben gesagt hast?«, fuhr er fort. »Dann hat sie mit alldem gar nichts zu tun!«
»Gemma? Sie war am falschen Ort, allein das hat sie schon verdächtig gemacht. Und ganz in meiner Nähe, das könnte zusätzlich den Ausschlag gegeben haben. Doch wir beide wissen, dass sie unschuldig ist. Und das werden wir auch beweisen!«
Matteo wandte sich wieder dem toten Kind zu.
»Wir müssen den Schnitt wieder zunähen«, sagte er, »und können nur inständig hoffen, dass auch dieses Mal außer Celestina niemand genauer nachsieht. Willst du das nicht als letzten Liebesdienst für Cata übernehmen? Eine Frau hat dafür zudem sicherlich die geschickteren Hände.«
Lina wich zurück. »Das sagt ausgerechnet ein Mann, dessen kundigen Hände Tag für Tag Schönheit erschaffen? Ich könnte es nicht über mich bringen, ihr noch einmal wehzutun. Auch wenn meine Kleine jetzt nichts mehr davon spürt. Du musst es machen – bitte, Matteo!«
Nicht ganz überzeugt, nahm er dennoch Ahle und Zwirn zur Hand, fädelte ein und trieb danach die Nadel viele Male so gleichmäßig wie möglich durch die Haut. Als er endlich fertig war und Cata wieder ihr weißes Hemdchen trug, sah sie völlig unversehrt aus.
Mamma Lina beugte sich über die Tote und küsste sie zum Abschied auf die Stirn.
»Jetzt bist du da, wo du hingehörst, kleiner Liebling«, sagte sie. »Die Madonna hat ihre goldene Leiter für dich heruntergelassen, und du bist auf ihr hinauf in ihren himmlischen Schoß gekrabbelt. Dort sitzt du, lächelnd und für immer fröhlich, so wie der Allmächtige dich ge schaffen hat. Bete für uns, kleine Cata! In unseren Herzen wirst du immer so in Erinnerung bleiben.«
»Wir müssen los!«, drängte Matteo. »Celestina darf niemals erfahren, dass ich hier unten nicht allein war …«
»Ich komme.« Sie zögerte kurz, dann beugte sie sich vor und küsste seine Wange. Sie war beinahe so groß wie er, das fiel Matteo auf, und musste sich dazu nicht besonders recken. »Ich werde dir niemals vergessen, was du heute Nacht für mich riskiert hast«, sagte sie. »Ich kenne niemanden in Siena und anderswo, der zu diesem Opfer bereit gewesen wäre. Wenn du jemals meine Hilfe brauchst, Matteo, so lass es mich wissen!«
»Gemma!«, sagte er. »Gemma …«
»Ich werde tun, was in meiner Macht steht. So wahr die Madonna mir beistehe.«
❦
Jetzt hockten sie alle draußen an den langen Holztischen unter einem wolkenlosen Sternenhimmel, aßen, tranken, lachten, klopften große Sprüche oder rissen Witze und fieberten doch innerlich nichts anderem entgegen als dem kommenden Morgen des Pferderennens. Nur in Bartolos Haus herrschte lähmende Stille. Sogar Lavinia schien inzwischen die Lust am Schimpfen verloren zu haben und hatte sich mit beleidigter Miene in das Schlafgemach zurückgezogen. Teresa und Lucia steckten irgendwo und versuchten sich gegenseitig zu trösten. Auch Mario war in seinem Zimmer, aus dem ab und zu dumpfe, in den Ohren Bartolos noch immer reichlich ungelenke Trommelschläge drangen.
Natürlich hätte der Junge an diesem Abend an die
Seite der anderen contradaioli gehört, die morgen hoffentlich den Sieg der Contrade Selva einläuten würden, aber wie hätte er dem kleinen tedesco zumuten können, sich einer neugierigen Meute zu stellen, vor der sogar er selber beinahe Angst empfand?
Irgendwann zu später Stunde hielt Bartolo es nicht länger aus in dieser gespenstischen Stille und trat hinaus auf die Gasse. Der Mond hoch über ihm war eine blasse Goldkugel; nur eine winzige Delle verriet, dass er erst in zwei Tagen vollkommen gerundet sein würde. Es war noch immer sehr warm, doch die drückende Schwüle des Tages war einer lauen, duftgetränkten Nachtluft gewichen, die Bartolo begierig einsog.
Nur wenige Schritte trennten ihn von der ausgelassenen Feier seiner Contrade, bei der er zum ersten Mal seit Jahren fehlte, denn selbst seine zahlreichen Reisen hatte er stets so einzuteilen gewusst, dass er an jenem speziellen Tag zurück in Siena sein konnte. Heute aber wollte er keinen von den Nachbarn sehen, weder ein mitleidiges Lächeln oder einen geheuchelten Gruß riskieren, erst recht aber kein verlegenes Wegschauen, als sei
Weitere Kostenlose Bücher