Die Sünderin von Siena
Befehl, den der aufgebrachte Pöbel sich nicht zweimal sagen ließ. Die letzten Predigten von padre Bernardo hatten die wachsende Unzufriedenheit in der Stadt gründlich geschürt, und was lange unter der Oberfläche gegärt hatte, brach nun in voller Vehemenz aus.
»Hattet wohl gedacht, ihr könnt euch auf unsere Kosten satt fressen, solange, bis der fette Bauch euch platzt?«, schrie einer der Männer und versetzte Puccio Benincasa, der ganz vorne stand, einen kräftigen Stoß. »Jetzt werdet ihr bei Wasser und Brot ausgiebig Gelegenheit erhalten, über eure Gier und euer Prassen auf unsere Kosten nachzudenken!«
Klugerweise hatten sich die Aufständischen nicht allein auf die Wut und Unterstützung der einfachen Sieneser verlassen. Zu den Hundertschaften, die sie aufgetrieben hatten, um ihren Putsch erfolgreich durchzuführen, gehörten viele Söldner aus den umliegenden Orten, die im Lauf der letzten Monate so unauffällig wie möglich angeworben worden waren.
»Ihr werdet doch nicht wagen, uns in den Kerker zu stecken!«, schrie jetzt Niccolo Strozzi, der damals mit dem Prediger verhandelt hatte und nicht glauben konnte, was er jetzt erleben musste. »Damit verstoßt ihr gegen das geltende Recht! Wir allein sind die einzig legitime Regierung von Siena …«
Zum Schweigen brachte ihn die schallende Ohrfeige eines wütenden Knüppelträgers, dem allerdings sofort Richter di Nero den Arm nach hinten riss.
»Keinerlei Gewalttätigkeiten gegen diese Männer!«, rief di Nero. »So und nicht anders lautet unser Befehl, und wer sich nicht daran hält, wird selber den Kerker kennenlernen. Wir werden ihnen einen ordentlichen Prozess machen. Bis dahin werden die Abgesetzten eingesperrt bleiben, wie es sich für Angeklagte gehört. Bringt sie hinunter!«
Die engen Zellen des Palazzo Pubblico galten als besonders gefürchtet. Unzählige Schauergeschichten rankten sich um die modrigen Verliese, die angeblich Beschuldigte allein durch ihre Widerwärtigkeit zu Geständnissen veranlasst hatten.
Binnen Kurzem waren die zwölf ehemaligen Ratsherren gefesselt und aus dem Saal des Friedens nach unten in die Kellergewölbe getrieben worden. Savo Marconi, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, ordnete an, dass die alte Fahne des Rats eingerollt und an ihrer Stelle eine neue gehisst wurde. Sie zeigte neben der balzana, dem schwarz-weißen Stadtwappen, das Symbol des Campo, eingeteilt in neun gleich große Felder. Nun flatterte sie neben den Bannern der diesjährigen Contraden vom Palazzo Pubblico.
»Welch ein Tag der Freude und des Triumphes – wir haben es geschafft!« Der Rektor strahlte. »Und bislang so gut wie ohne Blutvergießen. Wenn das kein gutes Vorzeichen für unseren Neuanfang ist …«
»Der Tag ist noch lange nicht zu Ende«, gab der Apotheker zu bedenken. »Hast du irgendwo die Leute von Salimbeni gesehen? Würde mich nicht wundern, wenn er wieder einmal eine Extratour fahren oder uns sogar in den Rücken fallen würde.«
»Du kannst es einfach nicht lassen, Savo!«, rief der Rektor. »Doch nicht zum ersten Mal sind deine Befürchtun gen völlig unbegründet. Rocco Salimbeni erwartet uns mit seinen Männern am Dom. Das hat er mir gestern Abend noch einmal mitteilen lassen. Zusammen können wir dort dem Volk von Siena den neuen Rat präsentieren.« Er strahlte über das ganze Gesicht. »Worauf wartet ihr noch, Freunde? Lasst uns gehen und es ihnen allen endlich verkünden!«
Der Seidenhändler Giordano Rivalto und Domherr Carsedoni waren mit ihren bewaffneten Männern für die Sicherung des Palazzo Pubblico zuständig. Nach ihren Befehlen bezogen die Milizen in allen Stockwerken Aufstellung. Nun waren die restlichen Anführer der Revolte bereit, sich Barna auf dem Weg zum Domplatz anzuschließen.
»Und der Prediger?«, fragte Enea di Nero halblaut seinen Freund Marconi, als sie auf dem Campo angelangt waren. »Wo steckt Bernardo?« Sie hatten auf Pferde verzichtet, um kein Aufsehen zu erregen und den Palio nicht zu stören, der jeden Augenblick beginnen musste.
»Wir haben ihm noch einmal dringend eingeschärft, seinen Unterschlupf nicht zu verlassen, bevor alles vorüber ist. Ihm und seinen Engeln. Aber ob sie sich auch daran halten werden?« Der Apotheker zuckte die Achseln. »Sein Treiben ist längst aus dem Ruder gelaufen. Als eine unserer ersten Amtshandlungen werden wir uns eingehend mit ihm beschäftigen müssen. Und es wird alles andere als einfach werden, das kann ich dir schon jetzt
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