Die Sünderin von Siena
Färber war aufgestanden und beugte sich besorgt über ihn. »Seid Ihr krank? Ihr habt ja ganz nasse Augen und wirkt auf einmal so …«
»Krank? Ganz im Gegenteil! Ich fühle mich äußerst gesund und glaube, langsam zu verstehen«, rief Bartolo. »Ich war blind und taub, jahrelang, wenn Ihr versteht, was ich damit sagen will.«
Jacopo Benincasa setzte ein höflich-unbestimmtes Lächeln auf und schwieg.
»Ich werde Eure Tochter aufsuchen«, fuhr Bartolo fort. »Gleich übermorgen, nach dem Palio. Entbietet Monna Caterina einstweilen meine tiefste Verehrung. Und sagt ihr auch, dass Gemmas Leben von ihrer Gunst abhängt! Das werdet Ihr doch nicht vergessen, geschätzter Jacopo?«
Er war im Reden aufgesprungen, schaute noch einmal zu Angelina, die, ihre Puppe auf dem Schoß, jetzt artig neben Mamma Lina auf der Holzbank Platz genommen hatte.
Dort drüben saß seine Zukunft, das begriff Bartolo in diesem Augenblick, Fleisch von seinem Fleisch, egal, welch sündiger Profession Angelinas verstorbene Mutter auch nachgegangen sein mochte. Doch wenn er sich am Heranwachsen dieser Tochter erfreuen wollte, musste es ihm zuerst gelingen, sein ältestes Kind vor dem Tod zu erretten.
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Der kräftige Fuchs äpfelte während des Segens, was allgemein als Glück verheißendes Omen galt. Die schmale Hand des f antino strich anerkennend über das Fell, das er solange gestriegelt hatte, bis es wie rötliches Gold glänzte, und der Hengst gab gleichsam als Antwort ein lautes Wiehern von sich. Der einzige Tag im Jahr, an dem ein Tier in die Kirche durfte, und was sich hier vor den Augen der Gläubigen in San Sebastiano vollzog, geschah zur gleichen Zeit an neun anderen Orten in der Stadt.
Die Frühmesse für die Reiter, mit der der Tag des Palio herkömmlicherweise begann, war schon vorüber, doch bei dieser zweiten Zeremonie erhielt der f antino der Contrade Selva einen zusätzlichen kirchlichen Segen. In den Holzbänken vibrierten die Männer, Frauen und Kinder vor Aufregung.
»Geh – und kehre als Sieger zurück!«
Nach diesem Schlachtruf des camerlengo , des Schatzmeisters der Contrade, gab es kein Halten mehr. Alle stürmten hinaus auf den kleinen Platz, wo Trommler und Fahnenschwinger nun ihre Künste zeigten.
Trotz aller Bedenken hatte Bartolo sich schließlich doch zur Teilnahme entschlossen, auch wenn er sich bewusst dezent im Hintergrund hielt. Aus der Entfernung konnte er Mario beobachten, der die Trommel schlug wie ein Alter, als seien alle früheren Einwände und jegliche Schüchternheit plötzlich vergessen.
Erfreut von diesem Anblick, den er sich schon unzählige Male zuvor in seiner Vorstellung ausgemalt hatte, reihte Bartolo sich als einer der Letzten in den Zug ein, der nun zum Domplatz aufbrach. Dies war der Ort, von dem aus die Reiter schließlich für den Palio alla lunga an den Start ritten. Der erfolgte an der Stadtmauer, und jeder Reiter wollte möglichst als Erster den heiligen Platz als Ziel erneut erreichen.
Schon jetzt waren die Straßen von Menschen gesäumt, aber es würden in den nächsten Stunden noch mehr werden, die hier jubelnd Schulter an Schulter standen, bis sich schließlich ganz Siena auf den Beinen befand und nur noch Kranke, Hochschwangere und Gebrechliche in den Häusern zurückblieben. Dann wurde es allmählich Zeit für den durchdringend hellen Klang der Sunta , der Hauptglocke des Rathausturms am Campo, die den Beginn des jährlichen Rennens einläutete.
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Die zwölf Ratsherren im Saal des Friedens hatten gerade ihre Sitzung beendet, als ein lauter Knall sie aufschreckte. Mit einem provisorischen Rammbock hatte man die Türe gesprengt, die nun beidflügelig aufflog. Bevor der Zwölferrat sich noch von dem Schreck erholen konnte, waren die Verschwörer in den Saal gestürmt, allen voran Nardo Barna, eine Armbrust schwenkend. Ihnen folgte die Rotte ihrer provisorischen Truppen, die sich seit Tagesanbruch in Häusern, Kellern und Innenhöfen bereitgehalten hatten, bis der Campo sich leerte und nahezu alle Menschen in Richtung Dom gezogen waren.
»Im Namen der allerheiligsten Muttergottes, der Schutzherrin von Siena!«, rief der Rektor. »Ergebt euch ohne Gegenwehr, dann wird euch nichts geschehen! Wir erklären euch hiermit für abgesetzt. Eure Regierung hat schwer gefehlt und nichts als Armut, Bestechung und Unrecht über unsere schöne Stadt gebracht. Die Zeit der dodicini ist hiermit zu Ende. Es lebe der neue alte Rat der nove . Ergreift und bindet sie, Männer!«
Ein
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