Die Sünderin von Siena
verraten.«
»Wir müssen ihn wieder loswerden, so schnell wie möglich. Aber wie sollen wir das anstellen, wo er doch noch immer auf den freien neunten Stuhl im Rat speku liert?« Die Augen des Richters verrieten Besorgnis. »Salimbeni hat ihn ihm fest zugesagt …«
»Vergiss es!«, erwiderte Marconi scharf. »Mit diesem Teufel als Bundesgenossen werden wir als neuer Rat keinen einzigen Tag lang regieren!«
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Vielleicht wäre sie mit den Kindern besser doch zu Hause geblieben, aber wie hätte sie das anstellen sollen, an diesem Tag der Tage, da ganz Siena auf den Beinen war? Immerhin hatte Mamma Lina allen strikte Verhaltensregeln eingeschärft und die Kinder sie so lange wiederholen lassen, bis sie endlich halbwegs zufrieden sein konnte.
»Niemals alleine gehen! Immer zu zweit bleiben! Stets kurzen Abstand zu mir halten! Sich von keinem Fremden ansprechen lassen! Nichts in den Mund stecken! Alles Essen und Trinken von unbekannten Personen zurückweisen …«
Sie konnte nur hoffen, sie hatte an alles gedacht.
Und als sie jetzt die wachsende Aufregung in den Gesichtern der Mädchen und Jungen sah, war sie doch sehr froh, dass sie sie nicht eingesperrt hatte. Der Strom der Menschen trieb sie dem Dom entgegen, und die Straßenränder auf dem Weg dorthin waren von Schaulustigen bereits dicht besetzt.
»Sollen wir uns nicht schon jetzt ein geeignetes Plätzchen suchen?«, rief Lelio. »Hier zum Beispiel wäre die Sicht noch ganz wunderbar!«
»Unmöglich«, sagte Lina besorgt. »An dieser Stelle ist die Straße so eng – da braucht nur eines der Pferde aus zuscheren, und ihr könntet verletzt werden oder sogar auf der Stelle tot sein. Dieses Risiko werde ich niemals in Kauf nehmen! Wir gehen ein Stück weiter, da wird es breiter …«
»… und wir sind noch näher am Ziel.« Das kam von Mia, die so viel redete wie sonst kaum. » Oca muss gewinnen. Oca hat schon so oft gewonnen – und wird es heute bestimmt wieder tun. Da will ich so nah wie möglich sein!«
Sie hob Raffi hoch und schwenkte ihn übermütig herum.
» Oca «, sang sie , »Oca, Oca . Unsere schöne weiße Gans wird heute Abend die Königin des Palio sein.«
Trotz ihrer Trauer musste Lina lächeln. Sie waren und blieben Kinder und sollten trotz all des Belastenden, das sie schon durchgemacht hatten, auch Gelegenheit haben, sich endlich wie Kinder zu fühlen.
Wie nah Freude und Leid bei ihnen zusammenlagen! Noch heute Morgen hatten alle gemeinsam Tränen wegen Mauro und Cata vergossen, die diesen Tag nicht mehr mit ihnen erleben konnten, jetzt aber fieberten sie vor freudiger Erwartung, dass das Rennen endlich beginnen würde.
Sorgfältig schaute Lina sich nach allen Seiten um. Der Domplatz war nur mehr ein paar Schritte entfernt und damit auch das Ziel in allerbester Sicht. Hinter ihnen bog talwärts eine schmale Gasse ab, die ihnen notfalls als Fluchtweg dienen konnte, sollte es doch zu voll werden.
»Hier bleiben wir!«, verkündigte sie und erntete als Antwort ein Strahlen aus vier glücklichen Kindergesichtern. »Jetzt können die Pferde kommen!«
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Es tat so gut, den Jungen neben sich zu spüren, seinen heißen, schlanken Körper, dessen Hitze er durch die Seide von Wams und Schecke spüren konnte. Am liebsten hätte Bartolo ihm die Hand auf den Kopf gelegt und sie nicht mehr fortgenommen, damit jeder seinen Stolz sehen konnte, doch das wagte er heute nicht. Genug hässliche Blicke hatten ihn bereits getroffen, von Menschen, die nur allzu bereit waren, Gemmas angebliche Schuld als erwiesen zu betrachten, und den Vater gleich mit zu bestrafen. Aber er hatte auch Mitgefühl erlebt, ungläubiges Kopfschütteln und aufmunterndes Schulterklopfen.
Es gelang ihm, das alles mit unbewegtem Gesicht hinzunehmen. Niemand ging schließlich an, was sich in ihm abspielte, und er vertraute auf den morgigen Tag, da mit dem Besuch bei Caterina alles hoffentlich eine günstige Wendung nehmen würde.
»Wieso sind die Männer in Waffen, zio ?« Marios Stimme holte ihn aus seinen Gedanken.
Wieso Waffen?, wollte Bartolo schon sagen, da sah er noch einmal genauer hin. Etwas war anders als sonst, das erfasste er mit einem Blick. Hinter den Schaulustigen, die sich auf dem Domplatz drängten, entschlossen, nicht zu weichen, weil sie die besten Plätze ergattert hatten, waren tatsächlich bewaffnete Männer aufgezogen. Er sah Lanzen, Speere, Armbrüste, dazu viele Knüppel, auch wenn sich ihre Träger bemühten, sie nicht zu auffällig zur Schau zu
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