Die Sünderin von Siena
durch die Menge. »Wo steckt ihr beiden?«
Sie stolperte über den leblosen Lelio und wäre beinahe selber gefallen. Neben ihm lag die verlassene Flickenpuppe. Lina bewegte die Lippen. Doch sie brachte keinen einzigen Ton heraus.
Zehn
D urch die Gassen liefen sie, quer über die Plätze,
atemlos rufend und immer wieder laut schreiend, bemüht, keine Stelle auszulassen, keinen noch so versteckten Winkel zu übersehen: Lelio, der nach seiner kurzen Ohnmacht wieder erwacht war, sofort die verlassene Flickenpuppe gepackt, an sich gedrückt und seitdem kein einziges Mal über die hämmernden Schmerzen in seiner rechten Schläfe gejammert hatte; Mamma Lina mit Mia und Raffi, die trotz ihres tödlichen Erschreckens die Kinder nicht einen Moment aus den Augen ließ; Bartolo und Mario, die sich nach ein paar flüchtigen Sätzen zur gegenseitigen Verständigung ebenfalls der verzweifelten Suche angeschlossen hatten.
Wo war Angelina?
Keiner von ihnen hatte auch nur ein Ohr für die Verkündigung der Männer auf dem Domplatz, die nach der Vergabe der glänzenden Trophäe mit dem aufgemalten Bildnis der Madonna an die siegreiche Contrade Oca den Sturz des Zwölferrates zugunsten der neuen Regierung der neun bekanntgegeben hatten. Den beiden Erwachsenen fiel freilich nahezu gleichzeitig auf, dass die Stadt bedrohlich zu brodeln schien. Keine Spur von der unbeschwerten Ausgelassenheit, wie sie sonst nach dem all jährlichen Rennen herrschte, auch wenn es immer nur einen Sieger und neun Verlierer gab. Etwas anderes lag in der Luft, eine schwelende, ungute Stimmung, zu der auch die Bewaffneten passten, die vielerorts zwischen den festlich gekleideten Passanten auftauchten.
Natürlich war der Brunnen von Fontebranda ihr erstes, gefürchtetes Ziel gewesen, und als sie dort am Fuß der steinernen Anlage keine leblose kleine Gestalt entdeckten, stieß Lina einen inbrünstigen Seufzer der Erleichterung aus.
»Aber das heißt noch gar nichts!« Lelio hatte ein winziges weißes Gesicht, so überwältigend war seine Furcht. »Sie kann bei einem anderen Brunnen liegen – es gibt so viele in der Stadt!«
»Und du hast bestimmt nicht gesehen, wer dich niedergeschlagen hat?«, fragte Bartolo bestimmt schon zum fünften Mal. »Denk noch einmal gründlich nach! Selbst der kleinste Hinweis könnte nützlich sein.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Aber Angelina darf nicht sterben, nicht auch noch sie!«
»So kommen wir nicht weiter«, sagte Mario. »Wir sind zu langsam, viel zu schwerfällig. Lasst uns lieber kleinere Gruppen bilden. Dann können wir an mehreren Orten zugleich suchen.«
»Das ist doch viel zu gefährlich!«, rief Mamma Lina. »Wenn ich noch einen von ihnen verliere …«
»Wir werden die Kleine finden.« Bartolos Stimme klang so fest, dass alle neuen Mut schöpften. »Und Marios Vorschlag ist sehr gut. Ihr geht mit dem Mädchen los, Monna Lina, ich kümmere mich um den Kleinsten, während Mario und der Junge …«
»Lelio«, warf dieser schnell ein.
»… Mario und Lelio sich in meiner Nähe halten, damit ihnen nichts passiert. Und nur, wenn ich es ausdrücklich erlaube, können sie selbstständig suchen.«
Sie trennten sich und zogen in zwei verschiedene Richtungen los: Mamma Lina und Mia nahmen sich das restliche Terrain von Fontebranda vor, während die anderen zum Campo eilten.
»Es muss ein Brunnen sein«, murmelte Lelio, der sich anstrengen musste, um mit den um einiges längeren Schritten Marios mitzuhalten. »Irgendein Brunnen …«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Mario im raschen Weiterlaufen.
»Weil ich es eben weiß! Mauro und Cata sind tot am Brunnen gelegen, und Angelina …« Er verstummte.
»Und ich weiß etwas ganz anderes.« Marios helle Stimme klang auf einmal richtig grimmig. »Wenn jemand Angelina entführt hat, dann kann es auf keinen Fall Gemma gewesen sein, das werden selbst sie einsehen müssen. Jetzt müssen sie sie ganz schnell wieder freilassen!«
»Aber zuerst müssen wir Angelina finden.« Lelio begann zu keuchen. »Sie ist doch meine kleine Schwester!«
»Das werden wir auch!«, rief Bartolo, der nicht zeigen wollte, wie tief ihn die atemlos hervorgestoßenen Sätze der beiden Jungen gerührt hatten. Auf seiner Schulter saß Raffi, dessen ungekämmter Lockenkopf vibrierte.
Das Menschengewühl wurde dichter, je näher sie dem Campo kamen. Aus allen Richtungen strömten Männer, Frauen und Kinder der rötlichen Muschel zu, angezogen
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