Die Sünderin von Siena
Palazzo Pubblico mit der schwarz-weißen balzana , der Fahne des neuen Rates und der der siegreichen Contrade Oca stand hinter ihr. Die Fassaden der reichen Häuser gegenüber würden bald von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne erleuchtet werden.
Ihre Lippen bewegten sich lautlos, während sie langsam auf die Knie sank. Dann legte sie sich bäuchlings auf den Backstein, die Beine geschlossen, die Arme weit ausgebreitet.
»In deinen Schoß begebe ich mich, Maria, heiligste Muttergottes.« Tränen begannen zu fließen, aber sie merkte es nicht. »Du hast mich aus Not und tiefster Verzweiflung errettet. Du hast mein Flehen erhört. Ich, dein Kind, bin hier, um dir aus vollem Herzen für deine Güte zu danken.«
Alles blieb still, sie hörte nur das Flattern der Fahnenseide im aufkommenden Morgenwind und das schnelle Schlagen ihres Herzens. Und noch etwas kam dazu, ein helles, durchdringendes Pfeifgeräusch, das sich schnell hintereinander wiederholte, ohne dass sie gewusst hätte, was es sein könnte.
Sie wollte schon aufstehen, um ihre Danksagung zu beenden, da war auf einmal eine leichte, helle Wärme, die sie im ganzen Körper spüren konnte und die sich in ihr auszubreiten begann, bis sie sich schließlich wie von einer sanften Woge getragen fühlte. Sie war so verblüfft, dass sie beinahe zu atmen vergaß.
»Gemma? Liebste?«
Das war seine Stimme, jeder Zweifel ausgeschlossen! Es konnte nicht sein, sagte sie sich, es ist nur ein Traum, aber es war ebenso wahr wie das Wunderbare, das sie gerade empfunden hatte.
Gemma öffnete die Augen und blinzelte zu Matteo hinauf.
Über seinem Kopf hatten Dutzende von Mauerseglern ihr morgendliches Spiel begonnen, schlanke, pfeilartige Jäger in halsbrecherischen Flugmanövern. Es war, als ob die Vögel sie begrüßen wollten, um ihr an diesem jungen Tag eine ganz besondere Botschaft zukommen zu lassen.
»Du bist frei?« Er half ihr auf und drückte sie an seine Brust, so behutsam, als sei sie zerbrechlich. »Man hat dich also gehen lassen, mein Herz? Ich bin der glücklichste Mann der Welt!«
»Ja«, sagte Gemma lächelnd. »Frei und in Gedanken schon halb auf dem Weg zu dir. Woher wusstest du, dass du mich hier finden würdest?«
»Ich bin plötzlich wach geworden, glaubte, deine Stimme zu hören, und wusste, ich muss auf der Stelle zum Campo«, erwiderte er. »Du bist immer in mir, Gemma, im Wachen, im Träumen. Und deshalb bin ich hier.«
»Ich hab dir so viel zu erzählen, Matteo – du ahnst ja nicht, was noch alles geschehen ist! Aber lass uns zuerst zu Mamma Lina gehen und nach der kleinen Angelina sehen! Ich denke, sie erwarten uns bereits.«
❦
An die Zellentüre hatte er geschlagen, hatte gepoltert und geschrien, bis ihm die Stimme versagte. Seine Knöchel bluteten, ein Alb lastete auf seiner Brust, der ihn zu ersticken drohte, doch niemand erschien, um ihn aus seiner Not zu erlösen. Irgendwann ließ der Apotheker sich auf die hölzerne Pritsche fallen und barg verzweifelt das Gesicht in den Händen.
La Salamandra musste geredet haben – und die anderen beiden hatten ihn als Bauernopfer erkoren, nur so ließ sich dieser unerträgliche Zustand erklären. Irgendwann legte er sich hin und sank in einen unruhigen, erschöpften Schlaf, aus dem er hochschreckte, als die Türe sich öffnete.
Vor ihm stand Enea di Nero, der ihn finster ansah. »Ich wollte unbedingt mit dir reden, bevor Barna dich vernehmen wird. Was hast du dir dabei nur gedacht, Savo?«
»Das fragst ausgerechnet du? Du warst doch ebenso dabei wie unser Freund, der fromme Domherr!« Er sprang auf, funkelte den anderen giftig an. »Auch euch beiden haben diese kleinen Ausflüge an die Küste sehr viel Spaß bereitet, obwohl du eine eifersüchtige Frau zu beschwichtigen hattest, die viele unangenehme Fragen stellte, und Domenico auf seine Gemeinde Rücksicht nehmen musste. Mein Part war dabei der beste. Vielleicht habt ihr mich insgeheim sogar um meine Freiheit beneidet, doch ich sage dir, wenn ihr mich jetzt fallen lasst, dann reiße ich euch beide mit in den Abgrund!«
Der Richter schüttelte den Kopf. »So sehr hasst du sie, dass du nicht einmal davor zurückschreckst, Kinder töten zu lassen, nur um den Verdacht auf sie zu lenken? Wir wollten sie aus Siena vertreiben, das ja, aber doch nicht um diesen schrecklichen Preis!«
»Bist du wahnsinnig geworden?«, schrie Savo. »D amit hab ich doch nichts zu tun!«
»Deine Kreatur, dieser Leo, sagt etwas anderes. Seine Aussage
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