Die Sünderin von Siena
Gesicht zu, das fleckig von Staub und Tränen war.
»Ich bin Gemma Santini«, sagte sie und griff nach der Hand von Bartolo, der sich wie ein aufmerksamer Wächter hinter ihrem Stuhl postiert hatte. »Oder hat etwa bei Euch während meiner Haft ein gewisser Messer di Cecco auch nur ein einziges Mal als besorgter Ehemann vorgesprochen?«
Barna schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste«, entgegnete er, sichtlich unangenehm berührt. »Nein, bei mir war er nicht.«
»Dann vielleicht bei Euch, Richter di Nero?«, fragte Gemma weiter. »War Lupo di Cecco bei Euch, um sich für mich zu verwenden?«
Auch di Nero musste ihre Frage verneinen.
Gemma hielt die väterliche Hand noch immer fest umklammert. Bartolo spürte, wie wichtig sie für sie war.
»Ihr habt da etwas gesagt, Rektor Barna, als Ihr mich verhaftet habt«, fuhr sie fort. »Dass Ihr jetzt verstehen könntet, was mein Mann über mich gesagt habe. Lupo hat also mit Euch über mich gesprochen?«
Ein zaghaftes Nicken.
»Und Euch dabei vielleicht sogar glauben gemacht, ich sei zu derartigen Untaten fähig?«
Nardo Barna starrte Gemma stumm an, was ihr als Antwort genügte.
»Und ist er wenigstens jetzt erschienen, hier und heute, frage ich Euch, da meine Unschuld feststeht, um mich endlich nach Hause zu bringen?«
Das Schweigen im Uffizium wurde immer lastender.
»Lass uns gehen, Vater!« Gemma erhob sich mühsam und spürte dabei, wie schwach sie wirklich war. »In all diesen endlosen Kerkerstunden hab ich immer wieder darüber nachgegrübelt, wer nur die mächtigen Feinde sein könnten, die meinen Tod so sehr herbeiwünschen. Dabei lag die Antwort doch so nah.«
Ihr Blick war dabei zwingend auf den Rektor gerichtet.
»Mein eigener Mann!« Ihre Stimme zitterte. »Lupo ist mein allerschlimmster Feind, so schrecklich das auch klingen mag. Jetzt wisst Ihr, werte Herren, weshalb ich niemals mehr seinen Namen führen werde, geschweige denn jemals wieder sein Haus betreten kann.«
❦
Und wenn jemand sie beobachtete?
Keine andere Frau aus den angesehensten Familien der Stadt würde wagen, was sie jetzt vorhatte. Aber war ihr nicht ohnehin schon alles zugestoßen, wovor die anderen sich fürchteten? Was konnte ihr jetzt noch geschehen, da sie die Pforten der Hölle endlich hinter sich gelassen hatte?
Gemma schaute zu den Drillingsfenstern hoch, doch zum Glück waren noch alle Läden geschlossen. Siena musste den Tag des Palio und des Umsturzes erst verdauen, das machte sie sich zunutze. Noch in der Dunkelheit war sie aus dem Haus geschlichen, aber nicht mehr verdreckt und stinkend wie eine Verbrecherin, sondern nach einem ausgiebigen, herrlichen Bad duftend und angetan mit ihren besten Kleidern. Maria war ihr dabei schüchtern und gleichzeitig zuvorkommend zur Hand gegangen, die kleine große Maria, die niemals ein Junge gewesen war.
Wie hatten sie alle nur so blind sein können!
Es hatte mehr als eine Gelegenheit gegeben, die Identität zu erkennen, doch keiner von ihnen hatte es genutzt. Es erfüllte Gemmas Herz mit Stolz und Freude, wie offen Bartolo auf die erstaunliche Wendung reagiert hatte, er, der mit der kleinen Angelina auf einmal ohnehin noch eine weitere, eine vierte Tochter hatte. Maria würde in Siena bleiben, alles lernen dürfen, was sie über das Kaufmannsgeschäft wissen wollte, und ihm mit ihrem Rechentalent auch weiterhin zur Hand gehen. Jetzt waren es künftig also sozusagen fünf Töchter, was seine Sorgen sicherlich nicht kleiner machen würde. Gemma wusste, noch lag Schweres vor ihm, denn Lavinia war bislang noch nicht in die Geschichte mit Angelina eingeweiht. Aber er hatte fest versprochen, dies so bald wie möglich zu ändern.
Jetzt sehnte sich alles in Gemma nach Matteos liebenden Armen, doch sie wusste, sie konnte erst zu ihm gehen, wenn vollendet war, was sie sich im Kerker geschworen hatte. Sie lugte nach oben. Der Tag war nicht mehr fern; bald schon würde sich ein wolkenloser Himmel über ihr wölben. Das machte für alle Zeiten Siena aus, egal, welcher Rat die stolze Stadt auch regierte: das kräftige Rot seiner Häuser und das klare Blau des Himmels, die ewigen Farben der Muttergottes. Und der Campo, den viele für eine Muschel hielten, war natürlich nichts anderes als ihr ausgebreiteter Mantel.
In der Mulde angekommen, drehte Gemma sich einmal langsam um die eigene Achse. Sie spürte die Macht und Größe der Gebäude, fühlte sich von ihnen aber nicht eingeschüchtert, sondern ermutigt und bestärkt. Der
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