Die Sünderin von Siena
plötzlich, was sie tun würde: zu Celestina gehen und sie fragen, ob sie so bald wie möglich wieder in der Küche von Santa Maria della Scala aushelfen könnte.
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Sie hatten sich für den falschen Weg entschieden, und als sie es bemerkten, waren sie schon zu weit gekommen, um auf dem steilen Pfad noch einmal umzukehren. Mühsam schoben sich die Karren der Kaufleute die Steigung hinauf. Im Abendlicht erhoben sich über ihnen die stolzen Türme der roten Stadt.
»Siena«, sagte einer der Reisenden ehrfurchtsvoll. »Und beim Allmächtigen, ich hab noch selten zuvor auf der Welt einen schöneren Ort gesehen!«
Mario Lauinger schwieg. Dazu hatte der Vater dringend geraten, als sie sich in Laufen getrennt hatten, und es gab nach wie vor keinerlei Anlass, an seiner Empfehlung zu zweifeln. Die anderen hatten sich längst an seine Einsilbigkeit gewöhnt und ihren schweigsamen jungen Begleiter nach ein paar derben Späßen meistens in Ruhe gelassen.
Mario hob den Kopf, seine Nasenflügel zuckten.
Die letzten Tage hatte es überall nach feuchter Erde und Frühling geduftet, auf einmal aber war da ein widerwärtiger, süßlicher Gestank, der alles überdeckte und sich in jede Faser fraß.
Was konnte das sein?
Tief in ihm stieg eine Erinnerung auf. Es roch nach …
» Non ci guardare, ragazzo, non è roba per te!«
Einer der Kaufleute, ein gutmütiger Bär aus Bergamo, der unterwegs zu ihnen gestoßen war und darauf baute, mit seinen Schildpattwaren im Süden das große Glück zu machen, packte Marios Kopf, hielt ihn zwischen seinen großen Händen und zwang ihn, in die andere Richtung zu schauen.
Gut gemeint, doch leider einen Augenblick zu spät.
Der Junge hatte das Schreckliche bereits gesehen: die vermummten Männer mit Schaufeln und Rechen, die sich dort zu schaffen machten, den rußigen Holzstoß, der noch glimmte, die Pfähle, an die zwei verkohlte Leichen gebunden waren. Jemand hatte sie mit frischem Grün bedeckt, was die grausame Szene gespenstig lebendig machte.
»Was ist das?« Marios Lippen bewegten sich nahezu lautlos.
» Peccatum mutum «, sagte der Bär. »Die stumme Sünde. Aber nicht einmal ein ganzes Feld voller Fenchelkraut könnte diese beiden Kerle jemals wieder lebendig machen.«
Zwei
D er feuchte Schwamm erwies sich schließlich als Ret
tung, und obwohl Matteo inzwischen bleierne Müdigkeit in den Armen spürte, setzte er ihn großzügig ein. Anstatt wie bei seinen bisherigen Fresken die Pigmente lasierend zu verwenden, hatte er erstmals buttrigen Kalk gewählt, was einen gut deckenden Auftrag erlaubte und gleichzeitig viele Lichter setzte. Durch die zusätzliche Nässe gelang es ihm nun, erstaunlich weich zusammenklingende Farben zu erzielen. Fast schien es, als wollten das Blau des Frauengewandes und das leuchtende Goldgelb des Männermantels ineinander verschmelzen – und doch war es bei genauerem Hinsehen eher eine Sinnestäuschung, falls die reichlich aufgestellten Wachsstöcke mit ihrem flackernden Licht nicht trogen.
Jedenfalls mochte er die beiden Gestalten, die da unter seinen Händen auf der sorgfältig vorpräparierten Wand entstanden: die zur Fülle neigende, mütterliche Anna, die von innen zu strahlen schien wie ein junges Mädchen, jetzt, da endlich ihr sehnlichster Wunsch sich erfüllte, ebenso wie Joachim, der sie in freudiger Aufregung umfing, kein Greis, wie in zahlreichen traditionellen Darstellungen, sondern ein kraftvoller, würdevoller Mann jenseits der Lebensmitte. Aber das war erst der Anfang, das prominente Mittelstück, das zunächst die Augen aller Betrachter auf sich ziehen würde, während Matteo für die versteckteren Ecken, die erst später an der Reihe waren, ganz andere Überraschungen parat hatte.
Er trat zurück, um sein Werk aus einiger Entfernung zu begutachten, und stieß dabei einen Fluch aus, denn die heruntergebrannte Kerze, die er sich auf den Kopf gebunden hatte, träufelte ihm heiße Wachstränen in die Augen. Ungeduldig riss Matteo sich die provisorische Konstruktion herunter und wäre dabei fast versehentlich auf Nevio getreten, der hinter ihm auf einem Lumpenbündel schnarchte. Der Junge hatte sich geweigert, nach Hause zu gehen, nachdem Matteo angekündigt hatte, die Osternacht durchzumalen, um die besondere Stimmung dieser Stunden einzufangen.
»Kein anständiger Lehrling verlässt seinen Meister«, hatte Nevio gemurmelt, die Lider schon schwer vor Müdigkeit. »Solange du bleibst, werde natürlich auch ich durchhalten.« Kurz
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