Die Sünderin von Siena
Truhen geholt. Anstatt der dunklen Umhänge des Winters leuchteten ihm nun die schönsten Farben entgegen, doch er war blind dafür, konnte nur an Gemma denken.
Welche Farbe würde sie tragen?
Rosenholz, das den Ton ihrer leicht bräunlichen Haut vorteilhaft unterstrich? Helles Grün, das sie frisch und mädchenhaft aussehen ließ? Jungfräuliches Weiß wie eine keusche Braut? Nein, es musste Rot sein, das wusste er plötzlich, starkes, leuchtendes Rot, die Farbe des Lebens, des Blutes und der Liebe. Doch das Rot allein war noch nicht genug. Blau gehörte unbedingt dazu, das Blau des Himmels, des unendlichen Meeres, der Treue. Rot und Blau – die ewigen Farben der Muttergottes.
Seine Aufregung wuchs.
Vielleicht war sie ja schon ganz nah, und er wusste es bloß noch nicht. Mit neu erwachtem Interesse bohrte Matteos Blick sich in all die weiblichen Rücken in den langen Kirchenbänken vor ihm, vor allem in all diejenigen, die rot oder blau waren. Wenn sich Gemma unter ihnen befand, dann musste sie sein stummes Flehen doch hören!
Doch nichts geschah. Keine Einzige wandte den Kopf, bis nach einer halben Ewigkeit schließlich eine Frau in einem blassblauen Gewand sich langsam umwandte.
Für einen Augenblick glaubte er zu schweben.
Große Augen, braunes, glattes Haar, das unter dem
weißen Schleier hervorquoll. Damit jedoch erschöpften sich bereits alle Ähnlichkeiten, und Matteos Enttäuschung fiel ins Bodenlose. Ein flächiges Gesicht, faltenreich, mit einem harten Mund. Das war sie nicht, die Madonna seiner Träume!
Beinahe hätte er vor Verzweiflung aufgeschrien.
Kaum hatte der Priester den Segen erteilt, stürzte er hinaus und holte im Freien erst einmal tief Luft. Der Morgen war frisch und kühl, das Licht so sanft, dass man es fast als zärtliche Berührung spüren konnte. Der Ostersonntag versprach ein sonniger Tag zu werden. Ringsherum war man schon eifrig dabei, Tische und Bänke für das mittägliche Festmahl auf den Domplatz zu schleppen; eiserne Spieße und Roste wurden daneben aufgestellt, auf denen die Ferkel und Lämmer gebraten werden sollten, damit sich die Ärmsten der Stadt an diesem hohen Feiertag ausgiebig satt essen konnten.
»Was ist los?« Nevio war ihm nachgelaufen und betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Bist du krank, Meister? Kann ich etwas für dich tun?«
»Allerdings. Lass mich einfach in Ruhe, ja?«, herrschte er den Jungen an und bereute im gleichen Augenblick seine Heftigkeit. Was konnte Nevio für sein aufgewühltes Inneres? »Alles, was ich brauche, sind ein paar Stunden Schlaf«, setzte er versöhnlicher hinzu. »Dann bin ich wieder ganz der Alte.«
»Aber ich könnte doch vielleicht …«
Matteo ließ ihn einfach stehen und ging eilig davon.
❦
Die Gaukler sah Gemma als Erstes, eine vielköpfige Gruppe von Erwachsenen und Kindern in abgerissenen Kleidern, die ihre Kunststücke vorführten. Der Auffallendste unter ihnen, ein dürrer Riese mit einem Adamsapfel, dick wie ein Hühnerei, warf bunte Lumpenbälle in die Luft. Gemmas Blick folgte dem geschickten Flug. Drei zählte sie, dann vier und schließlich fünf, was dem Mann noch immer keine größeren Schwierigkeiten zu bereiten schien. Allerdings verrenkte er dabei seinen ausgemergelten Körper in gespielten Qualen und verzog das Gesicht zu seltsamen Grimassen, bis der kleinste Junge anschließend die Bälle emsig aufklaubte und zurückbrachte.
Lachend blieb sie stehen und spürte, wie beim Zuschauen der Verdruss der vergangenen Stunden langsam aus ihrem Körper schwand.
Was war dieser hinterlistigen Lavinia nicht alles eingefallen! Weckte sie erst absichtlich nicht, nachdem Gemma ob der nächtlichen Anstrengung todmüde ins Bett gesunken war – und machte dann eine große Szene, als sie mit Nonna Vanozza, Bartolo und dem Rest der Familie von der Ostermesse zurückkehrte. Als ob es nicht ein mindestens ebenso gottgefälliges Werk war, für Waisenkinder pasta zu kochen und Gemüse zu schneiden, als scheinheilig auf einer Kirchenbank zu knien!
Besonders gestört hatte Gemma, dass die ganze Zeit über der kleine tedesco dabeigestanden und sie mit halb offenem Mund angestarrt hatte, als sei sie ein seltenes Tier. Sie konnte ihn nicht leiden, diesen Mario Lauinger aus Augsburg, und wenn sie zehnmal miteinander verwandt waren. War er nicht gerade dabei, ihr auch noch das letzte Quäntchen von Bartolos einstiger Liebe zu stehlen?
Den Vater schien er regelrecht verzaubert zu haben, ebenso wie Teresa, die ihn ständig
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