Die Sünderin von Siena
anstrahlte. Klug und erheiternd fanden sie, was immer dieser schüchterne Junge an Schiefem und Halbem hervorbrachte, und Bartolo hatte ihn vom ersten Augenblick an, als die fremden Kaufleute ihn müde und verdreckt an der Schwelle ablieferten, wie ein rohes Ei behandelt. Scheinbar alles durfte Mario sich herausnehmen: bekam am späten Abend ein heißes Bad zubereitet, das er dann stundenlang hinter verschlossener Türe genoss; ließ niemanden an seine Sachen und führte sich auf, als wäre er ein Prinz aus dem Morgenland und nicht der Sohn eines deutschen Kaufmanns, der nicht einmal genug Silber besaß, um aus eigener Tasche die Anreise seines Sohnes über die Alpen zu bezahlen.
»Ist er nicht drollig?«, rief Bartolo, wenn der Junge bei den Mahlzeiten alles so gierig in sich hineinschaufelte, als würde er am liebsten auch noch den Teller verschlingen. Teresa war natürlich ebenso begeistert, während Lavinia sichtlich entnervt die Augen verdrehte, bis nur noch das Weiße zu sehen war. »Und so klug und hübsch geraten dazu! Die feine Nase, die zarten Lippen und erst die Augen. Ja, Mario hat wirklich die goldenen Augen seiner Mutter Alba geerbt.«
Goldene Augen? Zum Totlachen, wie Gemma fand. Marios Augen zeigten ein helles Braun und waren kein bisschen goldener als ihre eigenen.
Schon aus Trotz hatte sie ihr bestes Kleid angezogen, bevor sie grußlos gegangen war, ein faltenreiches Gewand in kräftigem Rot mit überlangen Ärmeln. Darüber trug sie das neue Überkleid in jenem besonderen Blau, das wie von silbernen Lichtern durchwirkt schien. Dazu hatte sie den Perlenschmuck ihrer Mutter Francesca angelegt, der ihre Haut schimmern ließ. Bartolo hatte ihr eine kleine, pelzbesetzte Stofftasche nähen lassen, die nun an einer langen Seidenkordel an der Hüfte baumelte.
Vielleicht etwas gewagt für jemanden wie sie, die gerade ihrem Mann davongelaufen war – und wenn schon! Man würde sie ohnedies anstarren. Alle würden das. Klatsch verbreitete sich in Siena rasend schnell, und so war vermutlich die ganze Stadt bereits bestens im Bilde. Ein Grund mehr, die Brust herauszustrecken und den Kopf besonders hoch zu tragen.
» Signorina bellissima !« Der dürre Gaukler warf ihr einen seiner Lumpenbälle zu, den sie geschickt auffing. Dann den zweiten, schließlich einen dritten, der allerdings auf den Boden rollte. »Tanzt du später mit mir, mein saftiges Schätzchen?«
Ihr Lachen erstarb, als seine Zunge plötzlich in einer obszönen Geste in den Mundwinkel fuhr und seine Hand im gleichen Augenblick an den Hosenlatz. War sie derart herausgeputzt, dass er sie für eine Hure halten konnte? Oder stand ihr das Unsagbare noch immer so deutlich im Gesicht, dass selbst ein Dahergelaufener sich solche Dreistigkeiten erlaubte?
Die altbekannte Angst war zurück, zusammen mit ihrer dunklen Begleiterin, der Scham. Abrupt drehte Gemma sich um und machte, dass sie zu den Bänken kam, auf denen kaum noch ein freier Platz zu finden war. Ihr Atem ging rasch; am liebsten wäre sie auf der Stelle nach Hause gelaufen, doch was sie dort erwartete, war vermutlich nicht viel besser. Sie musste bleiben, wenn sie weiterleben wollte, bleiben – und bestehen lernen.
Die Luft war geschwängert vom Duft gebratenen Flei sches und würziger Saucen. Es roch so verführerisch, dass Gemma hungrig wurde, und sie dachte sehnsüchtig an die Schüsseln voller Nudeln, die sie vorbereitet hatten, an Safranpudding, Mandelmus und geschlagene Eiercreme, die nun darauf warteten, verschlungen zu werden.
»Gemma! Gemma Santini!« Lelio hatte sie entdeckt und kam ihr entgegengerannt, in der Hand ein riesiges Stück Lammkeule, von dem fettiger Saft tropfte. Gefährlich nah wedelte er damit vor ihrem Kleid hin und her. »Es schmeckt wie im Himmel. Und man darf so viel essen, wie man will, wusstest du das? Komm schnell und greif zu, solange noch genügend da ist!«
»Sind die anderen auch gekommen?« Vorsichtshalber brachte Gemma sich und ihr neues Kleid in sichere Entfernung.
»Klar. Dort hinten. Siehst du? Mamma Lina mit ihrem Schleier?«
Aus der festlich gekleideten Menge hob sich der schmale, weiß verhüllte Kopf der jungen Frau wie eine kostbare Schnitzerei ab. Als Gemma auf sie zuging, nickte sie kurz zur Begrüßung, dann schaute sie sofort wieder in die entgegensetzte Richtung. Gemma folgte ihrem Blick – und plötzlich glaubte sie zu verstehen.
Das war das Anliegen von Mamma Lina!
An einem kleineren Extratisch saßen dicht gedrängt die
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