Die Sünderin von Siena
die ebenso anregend wie gleichzeitig beunruhigend war. Sie würden sich begegnen. Allein schon auf die Straße zu treten, könnte bedeuten … Daran würde sie erst morgen denken.
Gemma zwang ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht, als sie die Haustüre öffnete und die Küche betrat. Mamma Lina stand am Herd und rührte in einem großen Topf. Sogar von hinten schien alles an ihr in Auflösung, der Rücken, die Schultern, ihr zu einem schlampigen Zopf geflochtenes Haar, das noch struppiger wirkte als sonst. So müde und verzagt hatte Gemma sie noch nie zuvor gesehen, und der Anblick tat ihr in der Seele weh.
Mauro und Cata, die mit leeren Garnrollen gespielt
hatten, sprangen sofort auf und liefen zu ihr, während Angelina mit ihrer Flickenpuppe auf dem kleinen Hocker sitzen blieb und sie fröhlich anlachte.
Ich kenne dich, dachte Gemma und erwiderte das fröhliche Grinsen der Kleinen. Und irgendwann wird mir gewiss auch noch einfallen, woher.
»Ich hab die gute Suppe verdorben.« Mamma Lina drehte sich um und brach in Tränen aus. »Raffi und Lelio haben die ganze Nacht gehustet, und dann fing auch noch Cata damit an. Ich hab kaum geschlafen. Und jetzt ist mir auch noch das Salzfass ausgerutscht! Dabei haben sie doch schon solchen Hunger!«
Sollte sie sie umarmen und trösten? Da war etwas in Linas Haltung, was Gemma im letzten Augenblick davon abhielt. Aber sie wusste besseren Trost.
»Warum lässt du mich das nicht machen?« Ihr Bündel flog auf einen Stuhl. »Wo sind die Bohnen? Das Öl? Das Mehl? Am besten, ich merk mir schon mal, wo alles steht, damit ich dich künftig nicht immer wieder aufs Neue fragen muss.«
Inzwischen kamen auch die größeren Kinder hereingestürmt, allen voran Lelio.
»Gemma! Gemma Santini …« Er begann bellend zu husten. »Du kochst für uns?«, fragte er keuchend, als er wieder Luft bekam, den Blick auf ihr Bündel gerichtet. »Nur heute Abend?«
»Gehörst du nicht eigentlich sofort ins Bett?«, sagte Gemma. »Mit einem Senfwickel um den Hals?«
»Später! Kochst du auch morgen für uns?« Er wollte alles ganz genau wissen. »Und übermorgen? Und überübermorgen? Ich glaube, dann würde es mir gleich noch viel besser schmecken.«
»Schon möglich«, sagte Gemma, beruhigt, dass Lina inzwischen zu weinen aufgehört hatte. »Vorausgesetzt, euer Dachkämmerchen hat inzwischen noch keinen würdigeren Bewohner gefunden.«
»Heißt das, du bleibst jetzt ganz bei uns?« Zum ersten Mal hatte die scheue Mia sich direkt an sie gewandt.
»Nur, wenn ihr mich haben wollt«, sagte Gemma und beobachtete dabei Mamma Lina sehr genau.
Die Augen der jungen Frau begannen zu lächeln.
»Aber ich hab die letzten Tage im Hospital geholfen, und da sind immer mehr Kinder eingeliefert worden«, fuhr Gemma fort. »Viele von ihnen sterben. Die Halsbräune, sie wütet so schlimm, wie nur irgend vorstellbar! Das musst du unbedingt wissen, Lina, bevor du dich entscheidest. Meine Familie hat mich deshalb ja auch …«
»Was mich betrifft, so hab ich mich längst entschieden«, sagte Mamma Lina. Ihre offene Geste schloss den Halbkreis der Kinder mit ein. »Und sie alle sich offenbar auch, wie mir scheint.«
❦
»Warm nennt der Maler alle Farbtöne, die sich dem Gelben und damit dem Feurigen nähern; kalt all diejenigen, die sich zum Kühlen, Blauen neigen. Warme Töne zu warmen Tönen werden in ihrer Wirkung gesteigert und bleiben in Mischungen leuchtend. Durch ein Übergehen mit kalten Tönen dagegen werden sie abgeschwächt oder verfeinert, je nachdem, wie intensiv du die Farbe aufträgst. Vermischst du sie jedoch stark, so schwärzen sie sich …«
Längst hatte Nevio damit aufgehört, die Pinsel im
hohen Napf mit dem Kalkwasser zu reinigen, wie Matteo es ihm aufgetragen hatte. Stattdessen starrte er mit offenem Mund den Maler an, damit ihm ja nur kein einziges Wort entging.
»Du musst schon das Bild anschauen, wenn du etwas für die Praxis lernen willst«, sagte Matteo lächelnd, dem dieser Übereifer gefiel. »Nur am Bild selber kannst du Schritt für Schritt nachvollziehen, was ich dir soeben in der Theorie erläutert habe.«
»Da!«, stieß der Junge hervor. »Aber ich sehe es doch ganz genau. Wo der rote Mantel der Elisabeth und der blaue der Madonna sich berühren, ist es dunkler und damit um einiges geheimnisvoller. Schön, dass du die beiden Frauen mit so dicken Bäuchen gemalt hast! Sieht aus, als würden sie bald gemeinsam niederkommen …«
Der unerwartete Anblick des Rektors
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