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Die Sünderin von Siena

Die Sünderin von Siena

Titel: Die Sünderin von Siena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Damals, als er sich noch perfekt verstellen konnte und ich in der irrigen Überzeugung lebte, vor uns beiden liege künftig nichts als Glück.
    Sie stutzte, als sie eine junge, ärmlich gekleidete Frau sah, die ein Bündel im Arm hielt und sich zielstrebig der pila näherte, wie in Siena die Öffnung hieß, in die man ungewollte Kinder legen konnte, um sie der Obhut von Santa Maria della Scala zu übergeben. Ihr kam es vor, als weine die Frau, denn ihre mageren Schultern bebten. Sie zögerte einen Augenblick, dann war das Bündel in der zur Straße hin offenen Klappe verschwunden, und die Frau entfernte sich wieder ebenso eilig, wie sie gekommen war.
    Sollte sie zurückgehen, fragte sich Gemma und sich um das Würmchen kümmern?
    Sie entschied sich dagegen. Es gab andere, die sich seiner annehmen würden. Andere, die zurzeit im Hospital besser gelitten waren als sie.
    Sie setzte ihren Weg fort, drehte sich jedoch unwillkürlich um, nachdem sie den Domberg hinter sich gelassen hatte. Weit und breit keiner, der etwas von ihr gewollt hätte. Dabei glaubte sie schon seit geraumer Zeit, Schritte hinter sich zu hören und immer wieder Blicke zu spüren, die sich in ihren Rücken bohrten. Regelrecht verfolgt fühlte sie sich, doch jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, war da niemand. Dennoch ließ das Gefühl sie nicht los, ständig unter Beobachtung zu stehen, es drängte sich in ihre Träume und war wohl eine der Ursachen, weshalb sie Morgen für Morgen zerschlagen erwachte. Deshalb war ihr die Arbeit in Santa Maria della Scala als Ablenkung so willkommen gewesen, auch wenn stöhnende Kinder nicht das waren, was sie sich darunter vorgestellt hatte.
    Immer noch in Gedanken versunken, bog sie in die nächste Gasse ein und blieb ein paar Augenblicke vor dem väterlichen Haus stehen. Bartolo Santini hatte vor einigen Jahren die Gesimse verbreitern und kostbare Glasfenster einsetzen lassen, die nun wie blank polierte Spiegel in der Abendsonne leuchteten. Selbst der Klopfer an der schweren Eingangstüre verriet den weit gereisten Kaufmann: ein Nashorn aus feinster Bronze, das er auf einem Markt in Nordafrika erstanden hatte, Reiseandenken und gleichzeitig Attribut der Contrade, zu der er sich seit Kindestagen zugehörig fühlte.
    Noch als junges Mädchen war Gemma davon überzeugt gewesen, ihr Vater sei nicht nur der reichste, sondern auch der glücklichste Mann der Welt, gesegnet mit drei gesunden Töchtern, die er zärtlich liebte. Inzwischen jedoch hatte sie lernen müssen, dass er offenbar stets etwas Wesentliches entbehrt hatte: Erst ein männlicher Erbe zur Übernahme und Weiterführung seiner Geschäfte hätte sein Glück vollkommen gemacht.
    Im dämmrigen Hausflur stieß sie beinahe mit Mario zusammen. Da war er ja, jener heiß ersehnte Glücksbringer, als hätte sie ihn gerufen, natürlich wieder mit gesenk tem Kopf und so verdruckst wie am allerersten Tag. Aus der Nähe sah sie, wie verfilzt sein braunes Haar war. Fransig und so struppig, als hätte es jemand im Vorbeigehen mit einem stumpfem Messer einfach abgesäbelt. Außerdem musste sie abrupt den Kopf abwenden, so penetrant war der Geruch, den er verströmte.
    »Wäscht man sich eigentlich gar nicht bei euch zu Hause in Augsburg?«, fragte sie spitz. »Du stinkst ja schlimmer als eine Herde brünstiger Ziegenböcke!«
    »Du duftest auch nicht gerade nach Veilchen und Rosen«, lautete seine Antwort.
    Verblüfft hielt sie inne, dann begann sie lauthals zu lachen.
    »Wusste gar nicht, dass du auch schlagfertig sein kannst«, sagte sie.
    »Und ich wusste nicht, dass du auch mal nicht tagein, tagaus beleidigt tun und ein finsteres Gesicht ziehen kannst.«
    Zum ersten Mal seit seiner Ankunft betrachtete sie ihn ohne Vorbehalte. Es stimmte, was der Vater behauptete, Marios Züge waren in der Tat anziehend: die hohe, gewölbte Stirn, ein zierlicher Mund und lebendige Augen ergaben zusammen ein offenes, freundliches Gesicht, über dem die Schüchternheit lediglich wie ein dünner Schleier lag.
    »Dann gibt es ja möglicherweise eine ganze Menge, was wir beide noch voneinander lernen könnten«, sagte Gemma. »Wo willst du eigentlich noch hin, so kurz vor dem Essen?«
    »Das hat Monna Lavinia mich eben auch gefragt«, sagte Mario. »Aber der Einzige, dem ich Rechenschaft schuldig bin, ist und bleibt zio Bartolo.«
    Seine selbstbewussten Worte gingen ihr noch durch den Kopf, als sie die steile Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstieg, sich das schmutzige Kleid vom Leib riss und es

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