Die Sünderin von Siena
Bernardo natürlich, der unsere Gassen und Plätze mit flammenden Worten aufheizt und mit der Schar seiner jugendlichen Engel unsicher macht.«
Der Apotheker schüttelte den Kopf.
»Ich lebe sehr zurückgezogen, wie du weißt«, sagte er. »Und alle Massenaufläufe sind mir seit jeher ein Gräuel.«
»Du solltest dir ihn aber anhören«, sagte Nardo Barna. »Und das so schnell wie möglich. Dieser Mann ist gefährlich. Gefährlich gut, könnte man ebenso sagen.«
»Weshalb?«
»Weil seine Worte die Seele des Volkes treffen – ohne Umschweife. Er weiß, was die Leute bewegt, was sie denken und fühlen. Worüber sie sich ärgern. Und wovor sie sich fürchten. Er könnte uns unter Umständen sehr nützlich sein, Savo.«
»Wir brauchen einen Volksaufwiegler, um mit unserer gerechten Sache Erfolg zu haben? Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
Barna hielt es nicht länger auf seinem Stuhl. Er schoss hoch und baute sich direkt vor dem Apotheker auf. Dem war diese Nähe unangenehm, aber er ließ es sich nicht anmerken.
»Was er sagt, trifft mitten ins Schwarze«, sagte der Rektor. »Er führt den Menschen ihre Sünden vor Augen. Dazu gehören nicht allein Falschheit und Lüge, nicht nur Neid, Missgunst und Betrug. Dieser Bernardo kennt nicht die geringste Scheu, auch die widerlichsten Vergehen unmissverständlich zu benennen, Vergehen wie Ehebruch und Sodomie. Und er malt in nicht minder glühenden Worten die Strafen aus, die über die reuelosen Sünder kommen werden wie flüssiges Feuer vom Himmel. Das gefällt mir!«
Jetzt war auch Savo Marconi aufgestanden.
»Spiele du nicht mit dem Feuer, mein Freund!«, sagte er. »Du willst dich dieser Kreatur bedienen, die der Rat noch im letzten Jahr mit Schimpf und Schande davongejagt hat? Du weißt genau, was ich im Allgemeinen von unserer Regierung halte. In diesem Fall aber hat sie richtig gehandelt. Denn Bernardo ist nichts anderes als ein Scharlatan, ein hohler Schwätzer, den das Bad in der Menge berauscht. Jetzt ist er mit einer Horde wilder Jugendlicher zurückgekehrt, vor denen man am liebsten auf der Stelle sein Haus verschließen möchte, so hungrig und verwahrlost kommen sie daher – und ausgerechnet ihn willst du für unsere Sache einspannen? Davor kann ich dich nur auf das Eindringlichste warnen, Nardo!«
Beschwörend sah der Rektor ihm in die Augen und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Ach, das mit den Engeln ist doch nichts als eine Kleinigkeit, die man leicht in den Griff bekommt!«
»Und wenn du dich täuschst?«
»Ich kenne diese wilden Kinder! Sobald sie genug zu essen und zu trinken bekommen, werden sie unschuldig wie Lämmer. Siehst du denn nicht, was in unserer Stadt tatsächlich vor sich geht? Woran sie leidet? Die Schwäche der Ratsherren, gegen die wir angehen wollen, ist doch lediglich die Krönung aller Unordnung. Moral und Ge setz sind gänzlich aus dem Lot geraten. Alt wie jung hurt dreist herum, bricht ganz öffentlich die Ehe, als sei es nichts als ein lustiges Spiel, verkehrt sogar widernatürlich untereinander, ohne Scham, ohne jegliche Angst, anstatt sich eine brave Frau zu nehmen und Kinder für Siena zu zeugen.«
Schweiß rann von seiner Stirn, so sehr ereiferte er sich.
»Haben wir nicht erst vor Kurzem riesige Scheiterhaufen errichten müssen, um diese Pestilenz auszurotten? Sie sind kaum erloschen – und schon munkelt man erneut von Vorkommnissen dieser Abscheulichkeit! Wenn es so weitergeht, werden sie bald Tag und Nacht lodern müssen. Das, mein Freund, ist es, was unserem Siena bevorsteht, wenn nicht bald etwas Entscheidendes geschieht.«
Er schien keinen Widerspruch zu dulden, zum Äußersten entschlossen. Der Apotheker entschloss sich zum Einlenken, jedenfalls für den Augenblick.
»Du hast mich überredet, ich werde mir den Prediger also bei nächster Gelegenheit anhören«, sagte er. »Aber ich ersuche dich dringend, in der Zwischenzeit keine übereilten Schritte zu unternehmen! Vor allem sollten wir uns erst einmal ohne Hast mit den neuen Verbündeten abstimmen. Die Salimbeni beispielsweise …«
»… sind längst meiner Ansicht«, unterbrach ihn der Rektor. »Ihnen sind Chaos und moralische Auflösung offenbar ebenso zuwider wie mir.«
»Sie haben ihre Einwilligung bereits gegeben?« Die Stimme des Apothekers verriet seine Fassungslosigkeit. »Mit wem hast du gesprochen? Mit Cesare, meinem Gewährsmann? Mir gegenüber hat er kein Wort darüber verloren.«
»Nein, es war nicht Cesare direkt, sondern
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