Die Sünderin von Siena
Rocco, der Zweitälteste, übrigens ein Mann ganz nach meinem Geschmack: zielstrebig, mit festen Grundsätzen und von rascher Entschlusskraft. Soviel ich weiß, liegt padre Bernardo ein ganz konkretes Angebot von seiner Seite vor. Dessen Antwort allerdings kenne ich noch nicht. Das ist alles, was ich dir zum jetzigen Zeitpunkt dazu sagen kann.«
Der Apotheker machte ein paar Schritte in Richtung Fenster. Von hier aus hatte er einen guten Blick auf die riesige Bauruine der Domerweiterung, die unvollendet geblieben war, seit die Pest vor zwanzig Jahren das Leben in Siena innerhalb weniger Tage zum Erliegen gebracht hatte. Tausende waren damals gestorben, Reiche ebenso wie Arme, hingerafft von der unerbittlichen Sichel des Schwarzen Todes, gegen den keine Medizin helfen wollte, kein noch so ausgefallenes Mittel stark genug gewesen war. Wie ein Mahnmal erhoben sich die Pfeiler in den wolkenlosen Himmel, zu Stein gewordene Erinnerung an menschlichen Größenwahn und an die tiefe Demut, zu der Gott seine sterblichen Geschöpfe schließlich gezwungen hatte.
»Wer sich rächt, an dem rächt sich der Herr; dessen Sünden behält er im Gedächtnis. Vergib deinem Nächsten das Unrecht, dann werden dir, wenn du betest, auch deine Sünden vergeben.« Marconi hatte sehr leise gesprochen.
»Was soll das heißen, Savo? Was in aller Welt zitierst du da?«
»Eine Passage aus dem Alten Testament. Ein kluger Mann hat sie mir einst in Salerno auf ein Pergament geschrieben, zusammen mit anderen Weisheitslehren, die mir in schwierigen Tagen stets Kraft und Mut gegeben haben.«
Nardo Barna beäugte den Apotheker argwöhnisch. »Irgendwie werde ich heute nicht richtig aus dir schlau. Du bist so anders, so …«
»… nur tief besorgt über die kranken Kinder«, sagte der Apotheker schnell. »Das steht jetzt doch erst einmal im Vordergrund, meinst du nicht auch? Lass uns wieder reden, sobald ich Bernardos Predigt gehört habe! Danach sehen wir weiter.«
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Mauro war schon am zweiten Abend zu ihr ins Bett geschlüpft, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, war allerdings verschwunden, sobald es hell geworden war. Als Gemma ihn später bei der Morgenmahlzeit mit einem Lächeln darauf ansprechen wollte, drehte er ihr den Rücken zu und tat, als sei er plötzlich taub geworden.
Ein Geheimnis also, das verstand sie sofort. Etwas, worüber er nicht reden wollte, das er aber in schöner Regelmäßigkeit beibehielt, Nacht für Nacht.
Fast jedes der Kinder hier pflegte seine eigenen Rituale, entwickelt in schweren Zeiten von Not und Bedürftigkeit; aber jedes der Kinder besaß auch seinen Stolz. Gemma bekam schnell zu spüren, wenn sie Grenzen verletzte, ob sie sich nun unberechtigterweise in einen Streit einmischte oder eingreifen wollte, wenn eines der Kinder einem anderen etwas wegnahm. Wie kleine Erwachsene kamen sie ihr manchmal vor, viel zu früh mit einem Schicksal konfrontiert, das ihnen un barmherzige Härten zugemutet hatte – und doch noch immer voller Mut und kindlicher Zuversicht.
»Sie sind stark«, sagte Mamma Lina, als sie abends beim Schein der Öllampe in der Küche beisammensaßen, während nebenan und im Stockwerk über ihnen allmählich Ruhe einkehrte. »Und dazu äußerst eigenwillig. Jedes von ihnen auf seine ganz persönliche Art.«
»Hast du keinen Liebling?«, fragte Gemma. »Sei ehrlich! Eines von ihnen rührt dein Herz doch sicherlich am meisten.«
»Und du? Wie steht es mit dir? Wer ist deiner? Sonst würdest du mich doch wohl kaum danach fragen.«
»Schwer zu sagen.« Gemma dachte an Mauros mageren, heißen Körper, der Nacht für Nacht ihre Nähe suchte. An die kleine Angelina, deren Anblick etwas in ihr auslöste, was sie gleichermaßen anzog und verwirrte. An Cata, die mit ihren Augenfalten und den unbeholfenen Gesten so fremdartig wirkte, gleichzeitig aber so ungemein liebenswert war. An Lelio, der …
»Lelios Husten wird und wird nicht besser«, sagte sie schließlich. »Ganz im Gegenteil. Gefällt mir gar nicht, wie er sich von Tag zu Tag mehr die Seele herausbellt. Heute Abend war er auch noch fiebrig. Wir müssen dringend etwas dagegen unternehmen.«
Mamma Lina lächelte.
»Dann ist es also Lelio, der heimlich dein Favorit geworden ist«, sagte sie. »Eine gute Wahl, wie ich glaube. Denn sie beruht ganz offenbar auf Gegenseitigkeit.« Sie spielte mit dem leeren Becher in ihrer Hand. »Wir haben ihm schon kannenweise Tee eingeflößt und dazu Wickel gemacht.«
»Ich hab seinen
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